Leitsatz (amtlich)
Die vom BVerfG zu den sog. Postlaufzeiten in gerichtlichen Verfahren entwickelten Rechtsgrundsätze gelten auch für befristete Anträge in Verwaltungsverfahren (hier Anträge auf Investitionszulage).
Normenkette
AO 1977 §§ 92-93, 97, 107, 147 Abs. 5; ZSEG § 11; StPO § 94 ff.
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) beantragte mit Schreiben vom 22. März 1976 eine Investitionszulage nach § 4b des Investitionszulagengesetzes (InvZulG). Der Brief wurde von ihrem Betriebsleiter am Vormittag des 30. März 1976, einem Dienstag, auf dem Postamt in Quickborn per Einschreiben aufgegeben. Umschlag und Einlieferungsschein tragen den Stempel "Ouickborn 2, 30. 3. 76,-12". Der Brief ist erst am 1. April 1976 - also einen Tag zu spät - beim Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt - FA - Elmshorn) eingegangen. Quickborn liegt von Elmshorn ca. 30km entfernt.
Im Wiedereinsetzungsverfahren legte die Klägerin ein Schreiben des Postamts Pinneberg vom 25. November 1976 vor, das folgenden Inhalt hat:
"Aufgrund ihrer fernmündlichen Rückfrage beim Betriebsleiter des Postamts Quickborn über Brieflaufzeiten von Quickborn nach Elmshorn teilen wir Ihnen folgendes mit: Briefsendungen, die beim Postamt Quickborn während der Schalteröffnungszeiten eingeliefert werden - gewöhnliche und eingeschriebene Sendungen - müßten im Regelfall beim Postamt Elmshorn am nächsten Werktag zur Zustellung oder Abholung bereitliegen."
Das FA wies den Antrag als verspätet zurück. Es vertrat die Auffassung, daß die Klägerin das Risiko tragen müsse, wenn sie einen Einschreibbrief erst einen Tag vor Fristablauf zur Post gebe. Denn bei Einschreibsendungen sei nach allgemeiner Erfahrung mit postalischen Verzögerungen zu rechnen. Auch der Einspruch hatte keinen Erfolg.
Mit der Klage trug die Klägerin vor: Ihr Betriebsleiter sei davon ausgegangen, daß der von ihm am 30. März 1976 per Einschreiben aufgegebene Brief rechtzeitig am folgenden Tag beim FA eingehen werde. Das habe seiner jahrelangen Kenntnis und Erfahrung mit Postsendungen von und nach Elmshorn entsprochen. Die Klägerin legte außerdem die Briefumschläge und Einlieferungsscheine von drei von ihr am 19. Dezember, 20. Dezember und 21. Dezember 1977 an die Volksbank Elmshorn gerichtete Einschreibbriefe sowie die Bestätigung der Volksbank vor, daß diese Sendungen jeweils am darauffolgenden Tag bei ihr eingegangen seien.
Das Finanzgericht (FG) wandte die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zu den sogenannten Postlaufzeiten in gerichtlichen Verfahren auch auf den vorliegenden Fall an. Es vertrat die Auffassung, daß der Begriff des Verschuldens in § 56 der Reichsabgabenordnung - AO - (§ 110 der Abgabenordnung - AO 1977 -) nicht anders ausgelegt werden könne als der gleichlautende Begriff in den für gerichtliche Verfahren geltenden Vorschriften (§ 44 der Strafprozeßordnung - StPO -, § 233 der Zivilprozeßordnung - ZPO -, § 56 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).
Dagegen richtet sich die Revision des FA. Es ist der Meinung, daß man die vom BVerfG zu den Fristen in gerichtlichen Verfahren entwickelten Rechtsgrundsätze auf Investitionszulagenanträge aus mehreren Gründen nicht anwenden könne.
Die vom BVerfG entschiedenen Fälle beträfen gerichtliche Verfahren, und zwar solche, in denen sich der Bürger gegen belastende Eingriffe der Verwaltung wehre. Diese belastenden Verwaltungsakte träfen den Bürger meist unverhofft, zum Teil auch zeitlich ungelegen. In der Mehrzahl der Fälle kenne er auch deren Inhalt nicht. Hier könne es der Rechtsschutzgedanke gebieten, dem Betroffenen im Interesse einer ausreichenden Überlegungs- und Äußerungsfrist die Möglichkeit zu geben, die ohnehin meist kurzen Rechtsmittelfristen bis zum letztmöglichen Zeitpunkt auszunutzen. Bei der Investitionszulage handele es sich demgegenüber um die Inanspruchnahme von Steuervergünstigungen in einem Verwaltungsverfahren, und für ihre Beantragung sehe das Gesetz eine im voraus nach mehreren Monaten bemessene Frist vor, die zudem an einem feststehenden Kalendertag ende, so daß der Investor ausreichend Zeit habe, sich darauf einzustellen.
Sei somit die Rechtsprechung des BVerfG auf den Streitfall nicht anwendbar, müsse es bei den Grundsätzen verbleiben, die der Bundesfinanzhof (BFH) für den Bereich des Steuerrechts aufgestellt habe. Danach treffe einen Steuerpflichtigen, der bis zum Ende einer Frist warte, eine erhöhte Sorgfaltspflicht. So müsse nach allgemeiner Erfahrung bei Einschreibsendungen mit postalischen Verzögerungen gerechnet werden. Das Postamt Pinneberg habe der Klägerin auch nur die übliche Postlaufzeit für den Regelfall bestätigt. Dies schließe aber nicht aus, daß sich die Beförderungsdauer im Einzelfall geringfügig ändern könne. So müsse eine Verlängerung von einem Tag als so minimal angesehen werden, daß noch nicht einmal von einer postalischen Verzögerung gesprochen werden könne.
Das FA beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet.
1. Das FG hat der Klägerin zu Recht Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt (vgl. § 5 Abs. 6 InvZulG i. V. m. § 110 AO 1977). Allerdings ist die Rechtsprechung des BVerfG zu den sogenannten Postlaufzeiten hier nicht unmittelbar anwendbar. Der Senat ist jedoch der Meinung, daß gute Gründe dafür sprechen, die in diesem Zusammenhang vom BVerfG entwickelten Grundsätze auch für eine Antragsfrist (mit Ausschlußcharakter) außerhalb eines Prozesses - hier für das befristete Antragsverfahren zur Erlangung einer Investitionszulage (vgl. § 5 Abs. 3 InvZulG) - anzuwenden.
2. Nach der ständigen Rechtsprechung des BVerfG darf der Bürger in gerichtlichen Verfahren gegen Akte der öffentlichen Gewalt auf die normalen Postlaufzeiten vertrauen. Er darf Rechtsmittelfristen voll ausnutzen, ohne seine Sorgfaltspflichten zu verletzen. Er muß lediglich die gewöhnliche Laufzeit je nach der gewählten Versendungsart und nach der Entfernung zwischen Aufgabe- und Zustellort einkalkulieren. Das BVerfG hat diese Rechtsgrundsätze aus den verfassungsrechtlichen Rechtsschutzgarantien der Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) hergeleitet. So darf nach Art. 19 Abs. 4 GG der Rechtsweg gegen Akte der öffentlichen Gewalt weder ausgeschlossen noch in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden. Nach Art. 103 Abs. 1 GG hat der Bürger ferner das Recht, sich in gerichtlichen Verfahren zu äußern und in diesem Sinne vom Richter zur Sache gehört zu werden. Das BVerfG hat seine Rechtsprechung außerdem auf die Überlegung gestützt, daß die Deutsche Bundespost für die Briefbeförderung und Briefzustellung ein gesetzliches Monopol besitze. Der Bürger, der sich für die Einlegung und Begründung seiner Rechtsmittel der Post bediene, müsse somit darauf vertrauen können, daß die Post die nach ihren organisatorischen und betrieblichen Vorkehrungen für den Normalfall festgelegten Postlaufzeiten auch einhalte. Er brauche sich Verzögerungen in der Briefbeförderung oder Briefzustellung nicht anrechnen zu lassen, da er darauf keinen Einfluß habe. Nur so sieht das BVerfG einen effektiven Rechtsschutz als gewährleistet an (vgl. Beschluß vom 5. Februar 1980 2 BvR 914/79, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1980 S. 203 - HFR 1980, 203-; Steuerrechtsprechung in Karteiform - StRK -, Finanzgerichtsordnung, § 56, Rechtsspruch 336 mit Nachweisen der Rechtsprechung des BVerfG im einzelnen).
3. Dem FA ist zuzugeben, daß diese Grundsätze im vorliegenden Verfahren und darüber hinaus generell bei Anträgen auf Investitionszulagen nicht unmittelbar anwendbar sind. Denn die Klägerin hat nicht in Wahrnehmung ihrer Rechte gegen einen belastenden Verwaltungsakt eine (Rechtsmittel-)Frist versäumt, sondern sie hat die Antragsfrist für die Gewährung einer Steuervergünstigung nicht eingehalten. Art. 19 Abs. 4 GG findet hier deshalb keine unmittelbare Anwendung. Ebenso verhält es sich mit Art. 103 Abs. 1 GG. Denn die Klägerin wurde nicht ihrem gesetzlichen Richter entzogen. Sie hat vielmehr bereits im Vorfeld eines gerichtlichen Verfahrens eine Antragsfrist versäumt.
4. Das BVerfG hat allerdings inzwischen die Anwendungsmöglichkeiten seiner Rechtsprechung erweitert. So ist diese nicht auf Verfahren beschränkt, an deren Beginn ein Akt der öffentlichen Gewalt steht. Sie gilt vielmehr beispielsweise auch im Zivilprozeß (vgl. Beschluß des BVerfG vom 25. Oktober 1978 1 BvR 761, 806/78, BVerfGE 50, 1) und im arbeitsgerichtlichen Verfahren (vgl. Entscheidungen des BVerfG vom 4. Dezember 1979 2 BvR 376/77, StRK, Finanzgerichtsordnung, § 56, Rechtsspruch 333), obwohl Art. 19 Abs. 4 GG nach seinem Wortlaut hier nicht anwendbar ist. Das BVerfG macht auch keinen Unterschied, ob es sich um den ersten Zugang zum Gericht oder um den Zugang zu einer weiteren, von der Prozeßordnung vorgesehenen Instanz handelt (vgl. Entscheidung vom 4. Mai 1977 2 BvR 616/75, BVerfGE 44, 302), obwohl Art. 103 Abs. 1 GG hier nicht gilt. Denn Art. 103 Abs. 1 GG gewährt nur Schutz durch den Richter, nicht aber gegen den Richter (vgl. Leibholz/Rinck, Kommentar zum Grundgesetz, 6. Aufl., Art. 103 Anm. 7). Schließlich hat das BVerfG in seiner Entscheidung vom 18. Januar 1978 BvR 1116/77 (StRK, Abgabenordnung, § 110, Rechtsspruch 1) seine Rechtsprechung auch auf das gerichtliche Vorverfahren, also auf ein Verwaltungsverfahren, ausgedehnt, obwohl hier sowohl Art. 19 Abs. 4 GG als auch Art. 103 Abs. 1 GG nicht unmittelbar anwendbar sind.
5. Sowohl bei den vom BVerfG entschiedenen Fällen als auch im vorliegenden Verfahren geht es letztlich um die gemeinsame Frage der Auslegung des Verschuldensbegriffs im Rahmen der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Der erkennende Senat ist der Auffassung, daß dieser Begriff nicht unterschiedlich ausgelegt werden kann, je nachdem, ob diese Auslegung nur nach einfachem Recht oder nach Verfassungsrecht (verfassungskonformer Auslegung) zu erfolgen hat. Denn eine unterschiedliche Auslegung würde die Rechtssicherheit beeinträchtigen. So wäre es für den Bürger unverständlich, daß er sich zwar im Einspruchsverfahren gegen einen ablehnenden Bescheid auf Investitionszulage auf die normalen Postlaufzeiten soll verlassen dürfen, daß dies aber nicht für das vorangehende Antragsverfahren gelten soll, weil ihn hier eine "erhöhte" Sorgfaltspflicht trifft, was nichts anderes bedeutet, als da er im Antragsverfahren regelmäßig einen "Unsicherheitszuschlag" von einem oder mehreren Tagen machen müßte.
Was das BVerfG zum gesetzlichen Monopol der Deutschen Bundespost gesagt hat, gilt im übrigen auch hier. Der Investor ist für die Beantragung von Investitionszulagen in aller Regel auf die Dienste der Post angewiesen. Er muß sich deshalb auch hier auf die normalen Postlaufzeiten verlassen können. Es trifft auch der Einwand des FA jedenfalls in dieser Allgemeinheit nicht zu, daß die Frist zur Beantragung der Investitionszulage ausreichend bemessen war. Die im Streitjahr 1976 noch geltende Frist von drei Monaten wurde allgemein als zu kurz empfunden, weshalb sie dann der Gesetzgeber durch Art. 1 Nr. 6 Buchst. a Doppelbuchst. aa des Gesetzes zur Änderung des Investitionszulagengesetzes und anderer Gesetze vom 30. Oktober 1978 (BGBl I 1978, 1693) auf neun Monate verlängert hat. Im übrigen ist der Senat auch der Meinung, daß der Bürger generell gesetzliche Fristen ausnutzen und sich auf die normalen Postlaufzeiten verlassen kann. Schließlich handelt es sich bei dem vom BVerfG entwickelten Rechtsgrundsatz der "normalen Postlaufzeit" sowohl um einen sachgerechten als auch um einen ohne größere Schwierigkeiten feststellbaren Beurteilungsmaßstab für die Entscheidung. Verwaltungsbehörden und Gerichte sind nicht mehr wie in der Vergangenheit auf zuweilen zweifelhafte Erfahrungswerte angewiesen.
6. Nach den Feststellungen des FG betrug zu dem hier streitigen Zeitpunkt die Postlaufzeit für einen Einschreibbrief von Quickborn nach Elmshorn im Regelfall einen Tag. Auf diese Regellaufzeit konnte sich die Klägerin verlassen. An dem verspäteten Eingang ihres Antrags beim FA traf sie somit kein Verschulden. Die Revision war deshalb zurückzuweisen.
Fundstellen
Haufe-Index 413557 |
BStBl II 1981, 392 |
BFHE 1981, 396 |