Entscheidungsstichwort (Thema)
Änderungsfestsetzung bei einem Dauerbescheid
Leitsatz (NV)
Versäumt es das FA bei einem Dauerbescheid, Folgerungen aus ihm bekannt gewordenen neuen Tatsachen durch Neufestsetzung der Steuer für die Zukunft zu ziehen, so kann an der fehlerhaften Steuerfestsetzung in dem Dauerbescheid nur etwas geändert werden, wenn der Dauerbescheid bei Kenntnis der erst jetzt bekannt gewordenen Tatsache von Anfang an nicht ergangen wäre. §173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 gestattet es nicht, die Bestandskraft eines Dauerbescheides rückwirkend bis zu dem Zeitpunkt zu durchbrechen, zu dem der betreffende Bescheid ohne die Einschränkungen des §173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 hätte geändert werden dürfen.
Normenkette
AO § 173 Abs. 1 Nr. 2 S. 1
Tatbestand
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist seit 1992 Halter eines Kraftfahrzeuges vom Typ Toyota-Landcruiser J6. Das Fahrzeug, das über vier Türen und eine Heckklappe verfügt und eine Höchstgeschwindigkeit von 155 km/h erreicht, war in dem Fahrzeugbrief ursprünglich als "Pkw-Kombi, geschlossen" bezeichnet. Nach an ihm vorgenommenen technischen Veränderungen (Ausbau der Rücksitze mit Sicherheitsgurten, Unbrauchbarmachen der Sitzbefestigungspunkte, Einbau einer Abtrennung zum rückwärtigen Laderaum, Einbau einer Bodenplatte im Laderaum, der nach dem Umbau mehr als 50% der Gesamtfläche des Fahrzeugs ausmacht) wurde das Fahrzeug, dessen zulässiges Gesamtgewicht im Fahrzeugbrief mit 2 800 kg eingetragen war, von der Zulassungsstelle als Lkw eingestuft und von dem Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt -- FA --) zunächst entsprechend mit Kraftfahrzeugsteuer belegt. Das FA verlangt jedoch mit den durch Bescheid vom 3. Februar 1997 geänderten Kfz-Steuerbescheiden vom 5. und 9. Juli 1996 für das Fahrzeug des Klägers, in dessen Fahrzeugbrief inzwischen, angeblich seit 2. Dezember 1996, ein zulässiges Gesamtgewicht von 2 850 kg eingetragen ist, ab dem 1. Januar 1994 Kfz-Steuer nach Maßgabe des Hubraums gemäß §9 Abs. 1 Nr. 2 des Kraftfahrzeugsteuergesetzes -- KraftStG -- (Pkw-Besteuerung). Die hiergegen gerichtete Klage hat das Finanzgericht (FG) durch das in Entscheidungen der Finanzgerichte 1998, 68 veröffentlichte Urteil abgewiesen.
Dagegen richtet sich die vom FG zugelassene Revision des Klägers, zu deren Begründung im wesentlichen folgendes vorgetragen wird:
Das Urteil des FG verletze §173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977). Das FA habe sich bis Anfang 1996 mit Daten begnügt, die offenbar nach seiner eigenen Auffassung nicht vollständig waren, und nicht die Daten erfragt, die es nach seiner nunmehrigen Auffassung zur steuerrechtlichen Einstufung von Kraftfahrzeugen benötige. Die Erhebung dieser Daten sei auch zuvor möglich gewesen. Das FA habe sie von der Zulassungsstelle unschwer erhalten und abgleichen können. Das FA könne sich nicht darauf berufen, daß es sich um ein Massenverfahren handele; denn die Datenverschlüsselung ermögliche eine Massenbearbeitung. Überdies habe das FG das Fahrzeug des Klägers zu Unrecht als Pkw eingestuft.
Der Kläger beantragt sinngemäß, das Urteil des FG aufzuheben und die Kfz-Steuer unter Abänderung der Bescheide vom 5. und 9. Juli 1996 sowie der Einspruchsentscheidung vom 9. September 1996 i.d.F. des Änderungsbescheides vom 3. Februar 1997 auf den Betrag festzusetzen, der sich ergibt, wenn das Fahrzeug des Klägers mit dem Steuersatz gemäß §9 Abs. 1 Nr. 3 KraftStG besteuert wird.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Es trägt im wesentlichen vor, das Fahrzeug sei -- auch nach der Auflastung -- ein Pkw. Der Kraftfahrzeugsteuerbescheid sei daher rückwirkend zu ändern. Es könne in einem Massenverfahren wie bei der Festsetzung der Kfz-Steuer nicht verlangt werden, daß ohne besondere Veranlassung überprüft werde, ob nach dem Gesamtbild der technischen Daten trotz zulassungsrechtlicher Einstufung eines Fahrzeuges als Lkw kraftfahrzeugsteuerrechtlich ein Pkw vorliege. Da im Streitfall die Umrüstung vor der Zulassung des Fahrzeuges auf den Kläger erfolgt sei, habe kein Anlaß für Ermittlungen bestanden.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet (§126 Abs. 3 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --). Das Urteil des FG verletzt Bundesrecht (§118 Abs. 1 Satz 1 FGO). Es kann unerörtert bleiben, ob seine kraftfahrzeugsteuerrechtliche Beurteilung der Streitsache revisionsrechtlicher Überprüfung standhielte. Denn das FG hat jedenfalls zu Unrecht die Voraussetzungen für eine rückwirkende Änderungsfestsetzung nach §173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 bejaht.
Der angegriffene Kraftfahrzeugsteuerbescheid verwirklicht die nach Auffassung des FG kraftfahrzeugsteuerrechtlich gebotene Besteuerung des Fahrzeuges des Klägers rückwirkend. Denn er betrifft ausschließlich die zurückliegenden Entrichtungszeiträume 1994/95, 1995/96 und den bei Erlaß des angefochtenen Bescheides von 1996 bereits begonnenen Besteuerungszeitraum 1996/97, währenddessen das Fahrzeug des Klägers abgemeldet worden ist. Der Kraftfahrzeugsteuerbescheid setzt die Kraftfahrzeugsteuer insoweit abweichend von der ursprünglichen, 1992 vorgenommenen Festsetzung fest. Er muß sich daher an §173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 messen lassen. Denn nur diese Vorschrift kommt für eine dem Kläger nachteilige Änderungsfestsetzung in Betracht (vgl. Urteile des Senats vom 10. Dezember 1991 VII R 10/90, BFHE 166, 395, 397, BStBl II 1992, 324, und vom 29. April 1997 VII R 1/97, BFHE 183, 272, BStBl II 1997, 627).
Als neue Tatsache, deren Bekanntwerden Voraussetzung für die Anwendung von §173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 ist, kommt hier die nachträgliche Feststellung der auch nach Umbau nicht wesentlich veränderten Fahrzeugbeschaffenheit in Betracht. Deren Unkenntnis rechtfertigt eine Änderung aber nur, wenn sie rechtserheblich, d.h. für die Veranlagung ursächlich gewesen ist.Das ist nur der Fall, wenn das FA bei rechtzeitiger Kenntnis des wahren Sachverhalts bei der früheren Festsetzung zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre (Urteile des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 14. Dezember 1994 XI R 80/92, BFHE 176, 308, 311, BStBl II 1995, 293, und vom 15. Januar 1991 IX R 238/87, BFHE 164, 492, 494, BStBl II 1991, 741). Die Änderung eines bestandskräftigen Kraftfahrzeugsteuerbescheides aufgrund von §173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 scheidet hingegen aus, wenn die Finanzbehörde auch bei Kenntnis der Tatsache schon zur Zeit der ursprünglichen Veranlagung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu keiner anderen Entscheidung gelangt wäre, wobei grundsätzlich davon auszugehen ist, daß die dem Sachverhalt entsprechende (zutreffende) Entscheidung ergangen wäre. Die Frage, wie die Finanzbehörde den Sachverhalt bei Kenntnis der später bekanntgewordenen Tatsache damals gewürdigt hätte, ist unter Berücksichtigung der zum Zeitpunkt der ursprünglichen Veranlagung vorliegenden BFH-Rechtsprechung und der damaligen Verwaltungsanweisungen zu beurteilen. Die Tatsachen, aus denen sich die frühere Verwaltungsübung ergibt, hat die Finanzbehörde darzulegen und ggf. nachzuweisen (BFH-Urteile in BFHE 176, 308, 311, BStBl II 1995, 293, und in BFHE 164, 492, 494, BStBl II 1991, 741, jeweils m.w.N., sowie Senatsurteil in BFHE 183, 272, BStBl II 1997, 627).
Das FG hat -- für den Senat in der zugrundeliegenden tatsächlichen Beurteilung bindend -- in Übereinstimmung mit der für den Änderungsbescheid vom 3. Februar 1997 ursächlichen Rechtseinsicht des FA festgestellt, daß zum Zeitpunkt des Erlasses des geänderten Kraftfahrzeugsteuerbescheides (1992) das FA keinen anderen Steuerbescheid erlassen hätte, wenn ihm hinsichtlich der Beschaffenheit des Fahrzeuges alle Umstände bekannt gewesen wären; das FG hat jedoch sinngemäß angenommen, für eine rückwirkende Änderung dieses Bescheides biete §173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 unbeschadet des vorgenannten Erfordernisses der Feststellung, daß eine frühere Kenntnis der neuen Tatsache zu einer anderen Veranlagung geführt hätte, insoweit eine rechtliche Grundlage, als das FA ab Beginn des Jahres 1994 eine Pkw-Besteuerung vorgenommen hätte, weil von da an die nach einem Umbau nicht wesentlich veränderte Fahrzeugbeschaffenheit für das FA entscheidungserheblich gewesen wäre. Diese Betrachtungsweise verletzt §173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977.
Wie der Senat in seinem Urteil vom 24. März 1998 VII R 59/97 bereits ausgesprochen hat, genießt ein Kraftfahrzeugsteuerbescheid -- unbeschadet seines Charakters als Dauerbescheid (vgl. dazu Urteil in BFHE 166, 395, 398, BStBl II 1992, 324) -- grundsätzlich Bestandsschutz. Denn wie bei jedem Steuerbescheid müsse sich der Steuerbürger auch bei einem Dauerbescheid auf dessen Bestandskraft verlassen können, solange nicht für die Zukunft (d.h. noch nicht angebrochene Besteuerungszeiträume) die richtige Besteuerung durch Erlaß eines Änderungsbescheides vorgenommen worden ist. Die Kraftfahrzeugsteuer für einen bereits begonnenen oder schon verstrichenen Entrichtungszeitraum darf abweichend von einem früheren bestandskräftigen Kraftfahrzeugsteuerbescheid nur unter den Voraussetzungen des §173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 (Rechtserheblichkeit der neuen Tatsache bei Erlaß des rückwirkend zu ändernden Bescheides; kein Ermittlungsmangel) festgesetzt werden. Nur für einen noch nicht angebrochenen Entrichtungszeitraum kann ein Kraftfahrzeugsteuerbescheid ungeachtet der Voraussetzungen des §173 Abs. 1 AO 1977 geändert werden (Beschluß des Senats vom 11. September 1997 VII B 135/97, BFH/NV 1998, 90). Versäumt es das FA also bei einem Dauerbescheid, Folgerungen aus ihm bekanntgewordenen neuen Tatsachen (oder einer geläuterten Rechtsansicht) durch Neufestsetzung der Kraftfahrzeugsteuer für die Zukunft tatsächlich zu ziehen, so bleibt es bei der fehlerhaften Steuerfestsetzung in dem Dauerbescheid, ohne daß daran noch etwas geändert werden könnte -- es sei denn, die Voraussetzungen des §173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 liegen vor, der Dauerbescheid wäre also bei Kenntnis der (ohne Verletzung der Ermittlungspflicht des FA) erst jetzt bekanntgewordenen Tatsache von Anfang an nicht ergangen --. §173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 gestattet es aber nicht etwa -- wie die Betrachtungsweise des FG voraussetzt --, die Bestandskraft eines Dauerbescheides rückwirkend bis zu dem Zeitpunkt zu durchbrechen, zu dem der betreffende Bescheid ohne die Einschränkungen des §173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 hätte geändert werden dürfen. Davon ist der erkennende Senat im übrigen bereits in seinem Urteil vom 26. Juni 1997 VII R 12/97 (BFH/NV 1997, 810) ausgegangen (vgl. auch Beschluß des Senats vom 1. September 1997 VII B 153/97, BFH/NV 1998, 89).
Die Sache ist spruchreif (§126 Abs. 3 Nr. 1 FGO). Denn im Streitfall ist der Kraftfahrzeugsteuerbescheid nach Beginn des Entrichtungszeitraums 1996/97 geändert worden. Bis dahin konnte der Kläger auf die Bestandskraft des Steuerbescheides von 1992 setzen. Die Voraussetzungen des §173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 liegen nicht vor. Die Änderungsfestsetzung für die Entrichtungszeiträume 1994/95 bis 1996/97 ist mithin rechtswidrig, das Urteil des FG und die angefochtenen Verwaltungsentscheidungen sind aufzuheben.
Fundstellen