Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundrechtsverstoß durch Versagung einstweiligen Rechtsschutzes
Leitsatz (amtlich)
1. Bei der Auslegung und Anwendung des § 123 VwGO sind die Gerichte gehalten, der besonderen Bedeutung der jeweils betroffenen Grundrechte und den Erfordernissen eines effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) Rechnung zu tragen. Einstweiliger Rechtsschutz ist zu gewähren, wenn anders dem Antragsteller eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung in seinen Grundrechten droht, die durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann, es sei denn, daß ausnahmsweise überwiegende, besonders gewichtige Gründe entgegenstehen.
2. Aus der Gewährleistung des von dem religiösen Bekenntnis unabhängigen Genusses staatsbürgerlicher Rechte durch Art. 33 Abs. 3 Satz 1 GG folgt, daß die Ausübung eines Kommunalmandats nicht aus Gründen verwehrt werden darf, die auch unter Berücksichtigung von aus dem Amt sich ergebenden zwingenden Erfordernissen mit der in Art. 4 Abs. 1 GG geschützten Glaubens- und Gewissensfreiheit unvereinbar sind.
Normenkette
GG Art. 4 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4, Art. 33 Abs. 3 S. 1; BVerfGG § 32 Abs. 1; VwGO § 123; LKreisO BY Art. 24; GemWG BY Art. 35 Abs. 1 S. 5; LKreisWG BY Art. 7; FGO § 114
Verfahrensgang
Bayerischer VGH (Beschluss vom 25.11.1987; Aktenzeichen 4 CE 87.00490) |
VG München (Beschluss vom 05.11.1986; Aktenzeichen M 7 E 86.04480) |
Tenor
1. Die Beschlüsse des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 5. November 1986 – M 7 E 86.04 480 – und des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 25. November 1987 – 4 CE 87.0094 – verletzen die Grundrechte des Beschwerdeführers aus Artikel 19 Absatz 4 in Verbindung mit Artikel 33 Absatz 3 Satz 1 und 4 Absatz 1 des Grundgesetzes. Sie werden aufgehoben.
2. Bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Klage nimmt der Beschwerdeführer das ihm zugefallene Mandat im 1984 gewählten Kreistag wahr, sofern er bei der Abgabe der in Artikel 24 Absatz 4 der Landkreisordnung für den Freistaat Bayern (BayRS 2020-3-1-I) vorgesehenen Versicherung die Worte „ich schwöre” durch die Worte „ich beteuere” ersetzt und die übrigen Voraussetzungen für die Ausübung des Kreistagsmandats erfüllt.
3. Zur Entscheidung über die Kosten in dem Verfahren der einstweiligen Anordnung wird die Sache an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.
4. Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen im Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht zu erstatten.
Tatbestand
A.
Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes; er will hierdurch erreichen, das Mandat in einem bayerischen Kreistag, in den er gewählt worden ist, einstweilen, d. h. bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die von ihm erhobene Klage, antreten und ausüben zu dürfen, ohne die vom Gesetz hierfür vorgeschriebene feierliche Versicherung in der Form des Eides abgeben zu müssen.
1. Art. 24 Abs. 4 der Landkreisordnung für den Freistaat Bayern – LKrO – (BayRS 2020-3-1-I) bestimmt in Satz 1, daß alle Kreisräte alsbald nach ihrer Berufung in feierlicher Form zu vereidigen sind. Satz 2 legt die Eidesformel fest, die dreimal die Wendung „ich schwöre” und den Zusatz „so wahr mit Gott helfe” enthält; Satz 3 erlaubt die Eidesleistung auch ohne diesen Zusatz. Satz 4 lautet:
Gestattet ein Gesetz den Mitgliedern einer Religionsgemeinschaft, an Stelle der Worte ‚ich schwöre’ andere Beteuerungsformeln zu gebrauchen, so kann der Kreisrat, der Mitglied einer solchen Religionsgemeinschaft ist, diese Beteuerungsformel sprechen.
Nach Art. 7 des Landkreiswahlgesetzes – LKrWG – in Verbindung mit Art. 35 Abs. 1 Satz 5 des Gemeindewahlgesetzes – GWG – gilt die Wahl als abgelehnt, wenn ein Gewählter erklärt, die Wahl zwar anzunehmen, jedoch nicht zum Eid bereit zu sein.
2.a) Bei der Wahl zum Kreistag des Landkreises Fürstenfeldbruck am 18. März 1984 wurde der Beschwerdeführer als Ersatzmann gewählt. Als er im Mai 1986 in den Kreistag hätte nachrücken sollen, erklärte er sich zwar zur Annahme des Mandats, nicht aber zur Eidesleistung bereit. Sein Gewissen und sein christlicher Glaube verböten ihm zu schwören; er sei jedoch bereit, die in Art. 24 Abs. 4 Satz 2 LKrO geforderte Verfassungs- und Gesetzestreue und Amtspflichtbereitschaft in anderer Weise feierlich zu beteuern. Daraufhin stellte der Kreistag am 24. Juli 1986 fest, der Beschwerdeführer sei aufgrund seiner Weigerung, den vorgesehenen Eid zu leisten, nicht Mitglied des Kreistages geworden, und vereidigte die nächstplazierte Ersatzbewerberin.
b) Der Beschwerdeführer erhob Klage zum Verwaltungsgericht und begehrte zugleich den Erlaß einer einstweiligen Anordnung. Das Bayerische Verwaltungsgericht München gab der Klage mit Urteil vom 5. November 1986 statt, lehnte mit Beschluß vom gleichen Tage jedoch den Erlaß einer einstweiligen Anordnung gemäß § 123 VwGO ab. Auch wenn dem Eid nach der Konzeption der deutschen Rechtsordnung ein rein weltlicher Charakter zukomme, sofern nicht die Worte „so wahr mir Gott helfe” hinzugefügt würden, so schütze Art. 4 Abs. 1 GG doch die insoweit andere Gewissensüberzeugung des Beschwerdeführers. Da es Art. 24 Abs. 4 Satz 4 LKrO in der gebotenen verfassungskonformen Auslegung erlaube, dies zu berücksichtigen, sei die Klage begründet. Gleichwohl fehle es für den Erlaß einer einstweiligen Anordnung, die einer Vorwegnahme der Hauptsache gleichkäme, an einem Anordnungsgrund. Bei Abwägung der Belange des Beschwerdeführers einerseits und des Kreistags und der nachgerückten Ersatzbewerberin andererseits überwögen die Belange der letzteren, da diesen ein mehrfacher Wechsel in der Besetzung des Kreistags nicht zuzumuten sie.
c) Gegen beide Entscheidungen wurden Rechtsmittel eingelegt. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof wies mit Berufungsurteil vom 25. November 1987 unter Abänderung des verwaltungsgerichtlichen Urteils die Klage ab und bestätigte mit Beschluß vom selben Tage die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes. Das Urteil wurde dem Beschwerdeführer am 31. März 1988, der Beschluß erst am 28. April 1988 zugestellt.
Der Kreistag habe den Mandatsverlust des Beschwerdeführers zu Recht festgestellt, da dieser nicht bereit gewesen sei, den vorgeschriebenen Eid in den Formen des Art. 24 Abs. 4 Sätze 1 bis 3 LKrO zu leisten. Dem stehe Art. 24 Abs. 4 Satz 4 LKrO nicht entgegen. Diese Vorschrift sei nach Wortlaut und Entstehungsgeschichte eindeutig und daher einer erweiternden Auslegung nicht zugänglich. Sie ziele auf ein spezielles gesetzliches Privileg; ein solches bestehe jedoch seit dem Fortfall des Mennonitenprivilegs von 1811 nicht mehr, so daß die Vorschrift derzeit leerlaufe.
Daß es mithin bei der Eidespflicht verbleibe, verletze den Beschwerdeführer nicht in seinen Grundrechten aus Art. 4 Abs. 1 GG, Art. 107 Abs. 1 BayVerf. Da Art. 4 Abs. 1 GG auch individuell besondere Gewissensüberzeugungen schütze und eine solche hinreichend dargetan sei, sei sein Schutzbereich zwar berührt. Das Grundrecht sei jedoch nicht verletzt; es setze sich nämlich nur gegenüber zwingenden gesetzlichen Verhaltenspflichten durch, nicht jedoch auch dort, wo das Gesetz dem Betroffenen ein Ausweichen ermögliche. So aber liege der Fall hier; denn der zum Kreisrat Gewählte, der den Eid verweigere, werde durch den fingierten Mandatsverzicht von Gesetzes wegen der Eidespflicht ledig.
Auch Art. 33 Abs. 2 oder 3 GG stünden dem gefundenen Ergebnis nicht entgegen. Zwar bewirke Art. 24 Abs. 4 LKrO für Mandatsbewerber wie den Beschwerdeführer eine Beschränkung des Zugangs zum kommunalen Ehrenamt. Ob dieser grundrechtlich geschützt sei, sei aber zweifelhaft. Jedenfalls sei die Beschränkung von Art. 24 Abs. 4 LKrO nicht intendiert, betreffe nur wenige Personen und wiege zudem nicht schwer. Sie sei auch gerechtfertigt; denn die Gleichheit der Beteuerungsform verdeutliche sinnfällig die Einbindung des einzelnen Kreisrats in die Gesamtheit des Kreistages.
Sei nach allem die Klage abzuweisen, so fehle es für die zugleich begehrte einstweilige Anordnung schon an einem Anordnungsanspruch. Daß obendrein kein Anordnungsgrund gegeben sei, habe das Verwaltungsgericht zutreffend dargelegt.
d) Über die Revision gegen das Berufungsurteil ist bislang nicht entschieden.
3. Der Beschwerdeführer hat gegen die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes Verfassungsbeschwerde eingelegt und zugleich den Erlaß einer einstweiligen Anordnung beantragt. Es verletze ihn in seinen Grundrechten, daß die Verwaltungsgerichte ihm keinen vorläufigen Rechtsschutz gewährt hätten. Insbesondere sei der rechtliche Ausgangspunkt des Verwaltungsgerichtshofs, wonach die individuelle Gewissensüberzeugung erst dann den Vorrang beanspruche, wenn ein Ausweichen auf andere Handlungsalternativen – einschließlich eines Rechtsverzichts – nicht möglich sei, mit Art. 4 Abs. 1 GG unvereinbar. Daneben sieht sich der Beschwerdeführer in seinem Recht auf gleiche Teilhabe an der politischen Willensbildung, insbesondere in seinem Recht verletzt, ein kommunales Mandat, das ihm von den Wählern angetragen sei, auch auszuüben.
4. Das Bayerische Staatsministerium des Innern, der Bayerische Senat und sinngemäß auch der Landkreis Fürstenfeldbruck sind der Verfassungsbeschwerde mit im einzelnen unterschiedlicher Begründung entgegengetreten. Die Landesanwaltschaft Bayern hat sich nur zum Antrag nach § 32 BVerfGG – ablehnend – geäußert.
Entscheidungsgründe
B.
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes durch die Fachgerichte kann grundsätzlich Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde sein, da sie eine selbständige Beschwer enthält, die sich nicht mit jener der späteren Hauptsacheentscheidung deckt (BVerfGE 77, 381 (400 f.) m. w. N.). Der Beschwerdeführer hat auch den Rechtsweg im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes erschöpft. Der in § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG niedergelegte Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde verlangt darüber hinaus nicht, auch den Rechtsweg in der verwaltungsgerichtlichen Hauptsache zu erschöpfen. Die gerügte Grundrechtsverletzung wird wegen der Unwiederbringlichkeit des entstehenden Rechtsverlustes gerade in der Versagung des vorläufigen Rechtsschutzes gesehen; dieser verfassungsrechtlichen Beschwer kann das Hauptsacheverfahren hier nicht abhelfen (vgl. BVerfGE 69, 315 (340); 77, 381 (401)). Mit der verwaltungsgerichtlichen Hauptsacheentscheidung ist nicht alsbald zu rechnen. Solange diese aber nicht ergeht, erleidet der Beschwerdeführer, trifft seine Rüge zu, wegen der zeitlichen Begrenzung des Kreistagsmandats einen stetig fortschreitenden und insoweit endgültigen Rechtsverlust, der durch die spätere Hauptsacheentscheidung nicht mehr rückgängig gemacht werden kann.
C.
Die Verfassungsbeschwerde ist auch begründet. Die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes durch die Verwaltungsgerichte verletzt den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten aus Art. 19 Abs. 4 in Verbindung mit Art. 33 Abs. 3 Satz 1 und Art. 4 Abs. 1 GG.
1. Die Verwaltungsgerichte gewähren vorläufigen Rechtsschutz unter anderem nach § 123 VwGO. Die Auslegung und Anwendung dieser Vorschrift kann vom Bundesverfassungsgericht nur dann beanstandet werden, wenn sie Fehler erkennen läßt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung der Grundrechte des jeweiligen Antragstellers und seines Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz beruhen. Art. 19 Abs. 4 GG verlangt nicht nur bei Anfechtungs-, sondern auch bei Vornahmesachen jedenfalls dann vorläufigen Rechtsschutz, wenn ohne ihn schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (BVerfGE 46, 166 (179)). Deswegen muß nicht nur der Gesetzgeber – wie für die Verwaltungsgerichtsbarkeit mit § 123 VwGO geschehen – eine Regelung vorsehen, aufgrund deren die Gerichte vorläufigen Rechtsschutz gewähren können. Vielmehr sind auch die diese Vorschrift anwendenden Gerichte gehalten, bei ihrer Auslegung und Anwendung der besonderen Bedeutung der jeweils betroffenen Grundrechte und den Erfordernissen eines effektiven Rechtsschutzes Rechnung zu tragen.
Die Verwaltungsgerichte haben die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hier davon abhängig gemacht, daß der Beschwerdeführer das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs und eines Anordnungsgrundes glaubhaft macht. Dies entspricht einer verwaltungsgerichtlichen Praxis, die verfassungsrechtlich unbedenklich ist. Droht danach dem Antragsteller bei Versagung des einstweiligen Rechtsschutzes eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung in seinen Grundrechten, die durch eine der Klage stattgebende Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann, so ist – erforderlichenfalls unter eingehender tatsächlicher und rechtlicher Prüfung des im Hauptverfahren geltend gemachten Anspruchs – einstweiliger Rechtsschutz zu gewähren, es sei denn, daß ausnahmsweise überwiegende, besonders gewichtige Gründe entgegenstehen.
2. Den dargelegten verfassungsrechtlichen Anforderungen entsprechen die angegriffenen Entscheidungen der Verwaltungsgerichte nicht.
a) Bei der Prüfung des Anordnungsanspruchs, wie sie den Verwaltungsgerichten oblag, ergeben sich gewichtige Anhaltspunkte dafür, daß der Beschluß des Kreistags, der Beschwerdeführer sei nicht Mitglied des Kreistags geworden, ihn in seinen Grundrechten aus Art. 33 Abs. 3 Satz 1 und Art. 4 Abs. 1 GG verletzt und dessen Klage in der Hauptsache daher aller Voraussicht nach erfolgreich sein wird.
Art. 33 Abs. 3 Satz 1 GG bestimmt, daß der Genuß staatsbürgerlicher Rechte unabhängig ist von dem religiösen Bekenntnis. Diese Gewährleistung hat grundrechtsgleichen Charakter, wie Art. 93 Abs. 1 Ziff. 4 a GG zeigt; sie findet sich insoweit inhaltsgleich in Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 136 Abs. 2 WRV. Der Genuß staatsbürgerlicher Rechte schließt ein, Kommunalmandate, die aufgrund des passiven Wahlrechts errungen worden sind, auch antreten und ausüben zu dürfen. Dieser Genuß soll nicht nur von der Zugehörigkeit zu einer organisierten Religionsgemeinschaft unabhängig sein, sondern von jedem – auch individuell besonderen – religiösen Bekenntnis. Daraus folgt, daß dem Beschwerdeführer die Ausübung des von ihm errungenen Kommunalmandats jedenfalls nicht aus Gründen verwehrt werden darf, die auch unter Berücksichtigung der sich aus dem Amt ergebenden zwingenden Erfordernisse mit der in Art. 4 Abs. 1 GG geschützten Glaubens- und Gewissensfreiheit unvereinbar sind. Es spricht aber alles dafür, daß eben dies im vorliegenden Falle geschieht.
Der Beschwerdeführer macht geltend, ihm verbiete sein Glaube in der Form eines Gewissensgebots, jeglichen Eid zu leisten. Der Verwaltungsgerichtshof hat die Ernsthaftigkeit und glaubensmäßige Fundierung dieser Überzeugung nicht in Frage gestellt. Dafür bestand auch kein Anlaß. Der Vortrag des Beschwerdeführers, für ihn sei der Akt des Schwörens mit der christlichen Lehre unvereinbar, findet in der herkömmlichen Verwendung der Worte „ich schwöre”, auch im Wortlaut der Bibel (Matth. 5, 33 – 37), eine Stütze. Eine solche Glaubensüberzeugung, die auch den ohne Anrufung Gottes geleisteten Eid aus religiösen Gründen ablehnt, wird durch Art. 4 Abs. 1 GG geschützt (vgl. BVerfGE 33, 23 (28 f.) m. w. N.). Unter diesen Umständen ist hier nicht entscheidungserheblich, ob einem solchen Eid von Verfassungs wegen jeder religiöse oder anderweitige Bezug zur Transzendenz abgesprochen werden kann, was nach der Auseinandersetzung mit der Entscheidung BVerfGE 33, 23 problematisch erscheint.
In das Grundrecht des Beschwerdeführers wird bereits eingegriffen, wenn ihm als zum Kreisrat Gewählten gemäß Art. 24 Abs. 4 LKrO die Rechtspflicht zur Leistung eines Eides auferlegt wird. An einem solchen Eingriff fehlt es nicht etwa deshalb, weil dieser Amtseid – anders als der Zeugeneid – nicht erzwingbar ist, sondern das Gesetz bei einer Eidverweigerung die Mandatsablehnung fingiert. Das hebt die Rechtspflicht nicht auf. Sie wird auch durch den Umstand nicht beseitigt, daß der Beschwerdeführer freiwillig zum Kreistag kandidiert hat und ihr unter Inkaufnahme des Mandatsverlusts hätte ausweichen können.
Der in Rede stehende Eingriff in das Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 GG läßt sich auch nicht im Hinblick auf zwingende Erfordernisse des Amtes rechtfertigen. Das könnte allenfalls dann in Betracht kommen, wenn es keine die Glaubensüberzeugung des Beschwerdeführers respektierende Alternative gäbe, die für die staatliche Gemeinschaft annehmbar wäre. So liegt der Fall jedoch nicht.
Zwar kann dem Staat nicht aufgrund individueller Glaubens- und Gewissenspositionen verwehrt werden, ein feierliches Versprechen der Erfüllung bestimmter Pflichten als Voraussetzung für die Innehabung gewisser öffentlicher Ämter oder die Ausübung bestimmter Berufe zu verlangen, um so zu erreichen, daß der Versprechende mit seiner Person für das versprochene Verhalten einsteht. Der Beschwerdeführer wendet sich jedoch nur gegen die Eidesform; er ist bereit, die Inhalte der Verpflichtungserklärung nach Art. 24 Abs. 4 Satz 2 LKrO in feierlicher Weise zu beteuern, wodurch er sich ebenso gebunden sieht wie andere durch den Eid. Ihm dies zu erlauben, ist für die staatliche Gemeinschaft hinnehmbar. Auf diesem Wege wird das öffentliche Interesse daran, daß Kreistagsmitglieder in eine persönliche Verantwortung für die Beachtung ihrer Amtspflichten, insbesondere die Bindung an Gesetz und Recht, gestellt werden, gerade gewahrt.
Das vom Verwaltungsgerichtshof angeführte weitere Interesse an einem in der einheitlichen Eidesform gelegenen sinnfälligen Ausdruck der Verbundenheit des einzelnen Kreisrats mit der Gesamtheit des Gremiums teilt ausweislich des Art. 24 Abs. 4 LKrO der Landesgesetzgeber selbst nicht. Dies zeigt zugleich, daß für die Tätigkeit eines Kreisrats nicht die vollkommene Identifizierung des Gewählten mit den in der Verfassung niedergelegten Wertungen in der Weise vorausgesetzt werden kann, wie es das Bundesverfassungsgericht in einer zudem ergänzenden Begründung für die in Art. 56, 64 Abs. 2 GG genannten Ämter angenommen hat, die in besonders ausgeprägter Weise der Repräsentation des Staates dienen (vgl. BVerfGE 33, 23 (31)).
b) Angesichts dieses auch im Rahmen einer vorläufigen Prüfung erkennbaren Anspruchs konnten die Verwaltungsgerichte den Anordnungsgrund für den begehrten vorläufigen Rechtsschutz nicht verneinen, ohne die Grundrechte des Beschwerdeführers aus Art. 19 Abs. 4 in Verbindung mit Art. 33 Abs. 3 Satz 1 und 4 Abs. 1 GG zu verletzen. Zwar zielte dessen Begehren, sein Kreistagsmandat auch ohne Verwendung der Eidesform für die in Art. 24 Abs. 4 LKrO vorgeschriebene Versicherung antreten und ausüben zu können, für die Zeit bis zur Entscheidung über die Hauptsache auf deren Vorwegnahme. Andererseits aber wird das Recht des Beschwerdeführers, sein Mandat auch auszuüben, bei Versagung des vorläufigen Rechtsschutzes nicht nur am Rande eingeschränkt, sondern fortschreitend endgültig vereitelt.
Bei dieser Sachlage ist die Bejahung des Anordnungsanspruchs, zumal im Blick auf das Gewicht der in Rede stehenden Grundrechtsverletzung, für die Prüfung des Anordnungsgrundes in weitem Umfang vorgreiflich.
Das Verwaltungsgericht und in seiner Hilfsbegründung der Verwaltungsgerichtshof haben den Anordnungsanspruch nicht in die Prüfung des Anordnungsgrundes einbezogen, vielmehr ihre Abwägung ganz losgelöst hiervon getroffen. Dem Erlaß einer einstweiligen Anordnung zur Abwehr des andernfalls drohenden fortschreitenden unwiederbringlichen Rechtsverlusts des Beschwerdeführers konnte weder die Erwägung entgegenstehen, daß im Falle einer nicht gänzlich auszuschließenden späteren Abweisung der Klage in der Hauptsache umgekehrt die Rechtsposition der nachgerückten Kreisrätin irreparabel verletzt wäre, noch der Gesichtspunkt, die Funktionsfähigkeit des Kreistags durch Vermeidung eines mehrfachen Wechsels in seiner Zusammensetzung zu sichern. Das Recht der Nachrückerin ist gegenüber dem Recht des Beschwerdeführers nachrangig, es kommt überhaupt erst zum Zuge, wenn das Kreistagsmandat des Beschwerdeführers – aus welchen Gründen auch immer – nicht (mehr) besteht. Einen mehrfachen Wechsel in der Zusammensetzung des Kreistags zu verhindern, war im vorliegenden Fall um so weniger ein hinreichender Grund, als ein solcher Rückwechsel im Hinblick auf die Prüfung des Anordnungsanspruchs als sehr wenig wahrscheinlich hätte erscheinen müssen und überdies ein erhebliches öffentliches Interesse daran besteht, daß der Kreistag nicht rechtswidrig, sondern rechtmäßig zusammengesetzt ist.
Andere Gründe, denen ein solches Gewicht zukommen könnte, daß sie die – vorläufige – Verwirklichung des Rechts des Beschwerdeführers zu hindern vermöchten, sind nicht ersichtlich.
D.
1. Die angefochtenen Entscheidungen verletzen daher die Grundrechte des Beschwerdeführers aus Art. 19 Abs. 4 in Verbindung mit Art. 33 Abs. 3 Satz 1 und Art. 4 Abs. 1 GG und sind nach § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben.
2. Nach der Besonderheit des Falles besteht kein Spielraum mehr für die richterliche Entscheidung; der Antrag des Beschwerdeführers muß in vollem Umfang Erfolg haben. Der Verwaltungsgerichtshof könnte somit die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nur wiederholen (vgl. BVerfGE 35, 202 (244)). Eine Zurückverweisung in der Sache erscheint auch deshalb nicht angebracht, weil das Interesse des Beschwerdeführers im Hinblick auf die weit fortgeschrittene Wahlperiode des Kreistages eine sofortige Entscheidung verlangt. Demgemäß war zu bestimmen, daß der Beschwerdeführer, sofern er weiterhin die übrigen Voraussetzungen für die Ausübung des Kreistagsmandats erfüllt, sein Mandat bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache antritt, nachdem er die in Art. 24 Abs. 4 Sätze 2 und 3 LKrO vorgesehene Versicherung in der Weise abgegeben hat, daß er statt der Eidesform die Worte „ich beteuere” benutzt. Die Sache wird daher lediglich zur Entscheidung über die Kosten des Ausgangsverfahrens an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.
3. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen im Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG.
E.
Die Entscheidung ist zu D 2 mit fünf zu drei Stimmen, im übrigen einstimmig ergangen.
Fundstellen
Haufe-Index 1556455 |
BVerfGE, 69 |
NJW 1989, 827 |
JZ 1989, 292 |
DVBl. 1989, 36 |