Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorsteuerabzug
Normenkette
EGRL 112/2006
Beteiligte
Verfahrensgang
Tenor
Die Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Richtlinie 2010/45/EU des Rates vom 13. Juli 2010 geänderten Fassung sowie der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer und der Effektivitätsgrundsatz
sind dahin auszulegen, dass
sie verlangen, dass dem Empfänger von Lieferungen von Gegenständen ein Anspruch auf Erstattung der zu Unrecht in Rechnung gestellten Mehrwertsteuer, die er an seine Lieferer gezahlt hat und die diese an die Staatskasse abgeführt haben, einschließlich der damit zusammenhängenden Zinsen, unmittelbar gegen die Steuerbehörde zusteht, wenn er zum einen, ohne dass ihm Betrug, Missbrauch oder Fahrlässigkeit vorgeworfen werden können, diese Erstattung aufgrund der im nationalen Recht vorgesehenen Verjährung nicht mehr von diesen Lieferern fordern kann und zum anderen formal die Möglichkeit besteht, dass diese Lieferer, nachdem sie die ursprünglich an den Empfänger dieser Lieferungen gerichteten Rechnungen berichtigt haben, im Nachhinein von der Steuerbehörde die Erstattung des zu viel gezahlten Betrags verlangen. Wird die von der Steuerbehörde zu Unrecht erhobene Mehrwertsteuer nicht innerhalb einer angemessenen Frist erstattet, ist der Schaden, der dadurch entstanden ist, dass der Betrag, der dieser zu Unrecht erhobenen Mehrwertsteuer entspricht, nicht verfügbar ist, durch die Zahlung von Verzugszinsen auszugleichen.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Finanzgericht Münster (Deutschland) mit Beschluss vom 27. Juni 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 6. Juli 2022, in dem Verfahren
Michael Schütte
gegen
Finanzamt Brilon
erlässt
DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Safjan, der Präsidentin der Dritten Kammer K. Jürimäe (Berichterstatterin) und des Richters N. Piçarra,
Generalanwalt: M. Szpunar,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Michael Schütte, vertreten durch Rechtsanwalt H. Nieskens,
- der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und N. Scheffel als Bevollmächtigte,
- der tschechischen Regierung, vertreten durch O. Serdula, M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch J. Jokubauskaitė und L. Mantl als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) in der durch die Richtlinie 2010/45/EU des Rates vom 13. Juli 2010 (ABl. 2010, L 189, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) sowie des Grundsatzes der Neutralität der Mehrwertsteuer und des Effektivitätsgrundsatzes.
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Kläger des Ausgangsverfahrens, Herrn Michael Schütte, und dem Finanzamt Brilon (Deutschland) (im Folgenden: Finanzamt) wegen des Anspruchs auf einen aus Billigkeitsgründen zu gewährenden Erlass der von den deutschen Finanzbehörden nachträglich geforderten Mehrwertsteuer und der darauf festgesetzten Zinsen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 168 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:
„Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige berechtigt, in dem Mitgliedstaat, in dem er diese Umsätze bewirkt, vom Betrag der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:
a) die in diesem Mitgliedstaat geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert bzw. erbracht wurden oder werden”.
Rz. 4
Gemäß Art. 178 Buchst. a dieser Richtlinie muss der Steuerpflichtige, um das Recht auf Vorsteuerabzug nach ihrem Art. 168 Buchst. a ausüben zu können, „in Bezug auf die Lieferung von Gegenständen oder das Erbringen von Dienstleistungen … eine gemäß Titel XI Kapitel 3 Abschnitte 3 bis 6 ausgestellte Rechnung besitzen”.
Deutsches Recht
Rz. 5
In § 163 der Abgabenordnung (BGBl. 2002 I, S. 3866) (im Folgenden: AO) heißt es:
„(1) Steuern können niedriger festgesetzt werden und einzelne Besteuerungsgrundlagen, die die Steuern erhöhen, können bei der Festsetzung der Steuer unberücksichtigt bleiben, wenn die Erhebung der Steuer nach Lage des einzelnen Falls unbillig wäre. …
…”
Rz. 6
§ 227 AO bestimmt:
„Die Finanzbehörden können Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder zum Teil erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falls unbillig wäre; unter den gleichen Voraussetzungen können...