Entscheidungsstichwort (Thema)
Steuerbarkeit
Normenkette
EGRL 112/2006 Art. 2 Abs. 1 Buchst. a, Art. 9 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1
Beteiligte
Tenor
1. Art. 2 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Richtlinie 2009/162/EU des Rates vom 22. Dezember 2009 geänderten Fassung in Verbindung mit Art. 14 Abs. 1 dieser Richtlinie
ist dahin auszulegen, dass
die Lieferung von Elektrizität durch einen Verteilernetzbetreiber, auch wenn sie unbeabsichtigt erfolgt und das Ergebnis des rechtswidrigen Handelns eines Dritten ist, eine Lieferung von Gegenständen gegen Entgelt darstellt, die die Übertragung der Befähigung, über einen körperlichen Gegenstand zu verfügen, nach sich zieht.
2. Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 in der durch die Richtlinie 2009/162 geänderten Fassung
ist dahin auszulegen, dass
die Lieferung von Elektrizität durch einen Verteilernetzbetreiber, auch wenn sie unbeabsichtigt erfolgt und das Ergebnis des rechtswidrigen Handelns eines Dritten ist, eine wirtschaftliche Tätigkeit dieses Betreibers darstellt, da sie ein Risiko zum Ausdruck bringt, das seiner Tätigkeit als Elektrizitätsverteilernetzbetreiber innewohnt. Unter der Annahme, dass diese wirtschaftliche Tätigkeit von einer Einrichtung des öffentlichen Rechts im Rahmen der öffentlichen Gewalt ausgeübt wird, kann eine solche in Anhang I dieser Richtlinie aufgeführte Tätigkeit nur dann als unbedeutend im Sinne von Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 3 der Richtlinie 2006/112 angesehen werden, wenn sie in räumlicher oder zeitlicher Hinsicht von minimalem Umfang und folglich von einer so geringen wirtschaftlichen Bedeutung ist, dass die Wettbewerbsverzerrungen, die sich daraus ergeben können, wenn schon nicht gleich null, so doch zumindest unerheblich wären.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom vredegerecht te Antwerpen (Friedensgericht Antwerpen, Belgien) mit Entscheidung vom 8. November 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 11. November 2021, in dem Verfahren
Fluvius Antwerpen
gegen
MX
erlässt
DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin M. L. Arastey Sahún sowie der Richter N. Wahl (Berichterstatter) und J. Passer,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Fluvius Antwerpen, vertreten durch C. Docclo, Avocate, sowie T. Chellingsworth, D. Devroe und B. Gevers, Advocaten,
- der belgischen Regierung, vertreten durch P. Cottin, J.-C. Halleux und C. Pochet als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch J. Jokubauskaite und W. Roels als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 12. Januar 2023
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) in der durch die Richtlinie 2009/162/EU des Rates vom 22. Dezember 2009 (ABl. 2010, L 10, S. 14) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2006/112) in Verbindung mit Art. 14 Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie sowie von Art. 9 Abs. 1 und Art. 13 Abs. 1 dieser Richtlinie.
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Fluvius Antwerpen (im Folgenden: Fluvius), einem Elektrizitätsverteilernetzbetreiber, und MX, einem Stromverbraucher, über die Zahlung einer Rechnung im Zusammenhang mit der unrechtmäßigen Entnahme von Elektrizität.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 2 der Richtlinie 2006/112 sieht vor:
„(1) Der Mehrwertsteuer unterliegen folgende Umsätze:
a) Lieferungen von Gegenständen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt tätigt;
…”
Rz. 4
Art. 9 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:
„Als ‚Steuerpflichtiger’ gilt, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbstständig ausübt.
Als ‚wirtschaftliche Tätigkeit’ gelten alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden einschließlich der Tätigkeiten der Urproduzenten, der Landwirte sowie der freien Berufe und der diesen gleichgestellten Berufe. Als wirtschaftliche Tätigkeit gilt insbesondere die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen.”
Rz. 5
Art. 13 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:
„Staaten, Länder, Gemeinden und sonstige Einrichtungen des öffentlichen Rechts gelten nicht als Steuerpflichtige, soweit sie die Tätigkeiten ausüben oder Umsätze bewirken, die ihnen im Rahmen der öffentlichen Gewalt obliegen, auch wenn sie im Zusammenhang mit diesen Tätigkeiten oder Umsätzen Zölle, Gebühren, Beiträge oder sonstige Abgaben erheben.
…
Die Einrichtungen des öffentlichen Rechts gelten in Bezug auf die in Anhang I genannten Tätigkeiten in jedem Fall als Steuerpfli...