Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Steuerrecht. Mehrwertsteuer. Dienstleistung gegen Entgelt. Begriffe ‚Steuerpflichtiger’ und ‚wirtschaftliche Tätigkeit’. Gemeinde, die unentgeltlich eine Asbestbeseitigung für diejenigen ihrer Einwohner organsiert, die Eigentümer einer Immobilie sind und den entsprechenden Wunsch geäußert haben. Erstattung von 40 % bis 100 % der Kosten an die Gemeinde durch einen Zuschuss der zuständigen Woiwodschaft. Keine Steuerpflichtigkeit der Gemeinden für Tätigkeiten oder Umsätze, die ihnen im Rahmen der öffentlichen Gewalt obliegen
Normenkette
EGRL 112/2006 Art. 2 Abs. 1, Art. 9 Abs. 1, Art. 13 Abs. 1
Beteiligte
Dyrektor Krajowej Informacji Skarbowej |
Tenor
Art. 2 Abs. 1, Art. 9 Abs. 1 und Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem
sind dahin auszulegen, dass
es keine der Mehrwertsteuer unterliegende Dienstleistung darstellt, wenn eine Gemeinde von einem Unternehmen zugunsten derjenigen ihrer Einwohner, die Eigentümer sind und den entsprechenden Wunsch geäußert haben, Maßnahmen der Asbestbeseitigung und der Sammlung von asbesthaltigen Produkten und Abfällen vornehmen lässt, sofern eine solche Tätigkeit nicht auf die nachhaltige Erzielung von Einnahmen gerichtet ist und nicht zu einer Zahlung seitens der Einwohner führt, da diese Maßnahmen aus öffentlichen Mitteln finanziert werden.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht, Polen) mit Entscheidung vom 16. April 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 5. Oktober 2021, in dem Verfahren
Dyrektor Krajowej Informacji Skarbowej
gegen
Gmina L.
erlässt
DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin M. L. Arastey Sahún sowie der Richter N. Wahl (Berichterstatter) und J. Passer,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- des Dyrektor Krajowej Informacji Skarbowej, vertreten durch B. Kolodziej, D. Pach und T. Wojciechowski,
- der Gmina L., vertreten durch R. Majerowska, Radca prawny,
- der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Habiak und V. Uher als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 10. November 2022
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Abs. 1, Art. 9 Abs. 1 und Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Gmina L. (Gemeinde L.) in Polen und dem Dyrektor Krajowej Informacji Skarbowej (Direktor der nationalen Steuerinformationsbehörde, Polen) wegen eines an diese Gemeinde gerichteten Steuervorbescheids über die Besteuerung der von ihr veranlassten Asbestbeseitigungsmaßnahmen mit der Mehrwertsteuer und das Recht auf Abzug der Vorsteuer auf diese Maßnahmen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 sieht vor:
„Der Mehrwertsteuer unterliegen folgende Umsätze:
…
c) Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt erbringt;
…”
Rz. 4
Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 bestimmt:
„Als ‚Steuerpflichtiger’ gilt, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbstständig ausübt.
Als ‚wirtschaftliche Tätigkeit’ gelten alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden einschließlich der Tätigkeiten der Urproduzenten, der Landwirte sowie der freien Berufe und der diesen gleichgestellten Berufe. Als wirtschaftliche Tätigkeit gilt insbesondere die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen.”
Rz. 5
In Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 heißt es:
„Staaten, Länder, Gemeinden und sonstige Einrichtungen des öffentlichen Rechts gelten nicht als Steuerpflichtige, soweit sie die Tätigkeiten ausüben oder Umsätze bewirken, die ihnen im Rahmen der öffentlichen Gewalt obliegen, auch wenn sie im Zusammenhang mit diesen Tätigkeiten oder Umsätzen Zölle, Gebühren, Beiträge oder sonstige Abgaben erheben.
Falls sie solche Tätigkeiten ausüben oder Umsätze bewirken, gelten sie für diese Tätigkeiten oder Umsätze jedoch als Steuerpflichtige, sofern eine Behandlung als Nichtsteuerpflichtige zu größeren Wettbewerbsverzerrungen führen würde.
Die Einrichtungen des öffentlichen Rechts gelten in Bezug auf die in Anhang I genannten Tätigkeiten in jedem Fall als Steuerpflichtige, sofern der Umfang dieser Tätigkeiten nicht unbedeutend ist.”
Rz. 6
Art. 28 der Richtlinie 2006/112 lautet:
„Steuerpflichtige, die bei der Erbringung von Dienstleistungen im eigenen Namen, aber für Rechnung Dritter tätig werden, werden behandelt, als ob sie dies...