Entscheidungsstichwort (Thema)
Nachweisanforderung bei außergewöhnlichen Belastungen nach dem StVereinfG 2011. Anschaffung eines Liegefahrrads und eines zu dessen Transport in das Umland benötigten Kastenwagens durch einen außergewöhnlich Gehbehinderten keine außergewöhnliche Belastung
Leitsatz (redaktionell)
1. Weder die in § 33 Abs. 4 EStG in der Fassung des StVereinfG 2011 normierte Verordnungsermächtigung noch der auf ihrer Grundlage ergangene § 64 Abs. 1 EStDV in der Fassung des StVereinfG 2011 begegnen rechtsstaatlichen Bedenken.
2. Ein qualifizierter Nachweis im Sinne der in Leitsatz 1 genannten Bestimmungen ist auch im Streitjahr 2018 bei der Anschaffung eines Liegefahrrads zu erbringen.
3. Die Anschaffung eines Kastenwagens, auf den ein außergewöhnlich Gehbehinderter angewiesen ist, um sein Liegefahrrad in das Umland zu transportieren, da er in der Stadt nicht mehr fahren kann, führt nicht zu außergewöhnlichen Belastungen, wenn Anschaffungskosten in derselben Größenordnung auch für ein anderes Fahrzeug der unteren Mittelklasse hätten aufgewandt werden müssen.
Normenkette
EStG § 33 Abs. 2, 4; EStDV § 64 Abs. 1; GG Art. 3 Abs. 1
Tenor
Abweichend von dem Einkommensteuerbescheid 2018 vom 31.01.2020 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 07.08.2020 wird die Einkommensteuer unter Berücksichtigung weiterer außergewöhnlicher Belastungen in Höhe von 5.664,00 EUR festgesetzt.
Die Berechnung der Einkommensteuer wird dem Beklagten auferlegt.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens werden den Klägern zu 85 % und dem Beklagten zu 15 % auferlegt.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des Kostenerstattungsanspruchs der Kläger abwenden, wenn nicht die Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leisten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Anerkennung von Aufwendungen für eine doppelte Haushaltsführung als Werbungskosten oder außergewöhnliche Belastungen, für den Kauf eines C… Kastenwagen und eines Liegefahrrades als außergewöhnliche Belastungen in 2018.
Die Kläger wurden als Eheleute im Streitzeitraum zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Der Kläger erzielte in den Streitjahren Einkünfte aus nichtselbständiger Tätigkeit und die Klägerin erhielt eine Rente. Die Klägerin leidet u. a. seit mittlerweile 25 Jahren an einem weit fortgeschrittenen schweren Morbus Parkinson Asymmetrisches Bent-Spine-Syndrom (PISA-Syndrom) mit schwerer rechtsseitiger Spastik, Multipler Sklerose und Osteoporose.
Die Kläger wohnten und wohnen in der D…-straße, E… in einer 93 qm großen Wohnung und haben in 2014 eine zweite Wohnung mit 60 qm in der F…-straße, E… angemietet. Die Arbeitsstätte des Klägers befindet sich in der G…-straße, E…. Die Wohnung in der F…-straße ist 950 m und die Wohnung in der D…-straße ist 13 km von der Arbeitsstätte entfernt.
Mit ihrer Einkommensteuererklärung für 2018 machten die Kläger Aufwendungen für einen Pkw C… Kastenwagen in Höhe von 18.250,00 EUR und ein Liegefahrrad in Höhe von 6.602,50 EUR als außergewöhnliche Belastungen geltend. Zudem wurden Werbungskosten für eine doppelte Haushaltsführung in Höhe von 10.480,00 EUR geltend gemacht.
Mit Bescheiden vom 31.01.2020 setzte der Beklagte die Einkommensteuer und den Solidaritätszuschlag wie folgt fest, wobei der Beklagte die streitgegenständlichen Aufwendungen nicht berücksichtigte.
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2018 |
Einkommensteuer |
13.171,00 EUR |
Solidaritätszuschlag |
724,40 EUR |
Dagegen legten die Kläger am 05.02.2020 Einspruch ein, den der Beklagte mit Einspruchsentscheidung zum Teil stattgab und im Übrigen zurückwies. Der Beklagte berücksichtigte u. a. zusätzlich zu den bereits berücksichtigten 900,00 EUR für Kfz-Kosten behinderter Menschen (30 × 100 km × 0,30 EUR) weitere Kfz-Kosten für Wochenendausflüge in Höhe von 900,00 EUR.
Daraufhin haben die Kläger am 15.09.2020 Klage erhoben.
Folgende Punkte sind zwischen den Beteiligten streitig und Gegenstand des Klageverfahrens:
1. Doppelte Haushaltsführung
Insofern wird auf den Sachverhalt in dem Verfahren 7 K 7009/19 verwiesen.
2. Kosten Liegefahrrad
Dem durch die Kläger vorgelegen Arztbericht H… (Sektion Bewegungsstörung) vom 19.10.2020 (Bl. 42 der Gerichtsakte –GA–) ist zu entnehmen, dass zur Wiedererlangung der Mobilität und Aufrechterhaltung alltagsrelevanter Funktionen die Anschaffung eines speziell für die Klägerin anfertigten Fahrrades erforderlich sei.
Aus einem Gutachten des Allgemeinmediziners I… vom 29.01.2021 geht hervor, dass aufgrund der Gleichgewichtsschwierigkeiten der Klägerin das „normale” Fahrradfahren schon seit Jahren nicht mehr möglich sei. Die Klägerin könne lediglich mit einem Liegefahrrad fahren. Das regelmäßige Fahren sei geeignet und medizinisch zwingend notwendig, um den Erfolg der für sie essentiell wichtigen Physiotherapie zu fördern und zu stabilisieren. Das Liegefahrrad stärke das Herz-Kreislaufsystem der Klägerin und trainiere die Koordination und Bewegungsabläufe...