Entscheidungsstichwort (Thema)

Ursächlichkeit der Behinderung für die Unfähigkeit zum Selbstunterhalt

 

Leitsatz (redaktionell)

  1. Die nach § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 3 EStG für die Gewährung von Kindergeld erforderliche Kausalität zwischen der Behinderung des Kindes und der Unfähigkeit, sich selbst zu unterhalten, setzt nicht voraus, dass die Behinderung alleinige Ursache für die fehlende Möglichkeit zum Selbstunterhalt ist.
  2. Die Berücksichtigung entfällt nur in den Fällen, in denen nach dem Ergebnis einer Einzelfallprüfung ein anderer Umstand, etwa ein ungünstiger Arbeitsmarkt, die Behinderung als Ursache dafür überlagert, dass die Einkünfte und Bezüge nicht zur Bestreitung des erforderlichen Lebensbedarfes ausreichen.
  3. Der Bezug von Arbeitslosengeld II des Kindes erlaubt noch nicht die Schlussfolgerung, die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit könne nur auf Grund der Arbeitsmarktlage gescheitert sein.
  4. Bei einer behinderungsbedingten (GdB 60 v. H.) erheblichen Einschränkung der Vermittlungschancen ist die theoretische Möglichkeit einer Vermittelbarkeit des behinderten Kindes am allgemeinen Arbeitsmarkt nicht geeignet, die Ursächlichkeit der Behinderung für die im Ergebnis gleichwohl erfolglose Vermittlung zu beseitigen.
 

Normenkette

EStG § 32 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 4 S. 1 Nr. 3, § 62 Abs. 1 Nr. 1, § 63 Abs. 1 S. 2; SGB II § 7 Abs. 1, § 8 Abs. 1

 

Streitjahr(e)

2005, 2006

 

Nachgehend

BFH (Urteil vom 19.11.2008; Aktenzeichen III R 105/07)

BFH (Beschluss vom 14.05.2008; Aktenzeichen III S 16/08 (PKH))

 

Tatbestand

Die am 16. April 1982 geborene Klägerin ist behindert. Der seit dem 21. November 2001 festgestellte Grad der Behinderung (GdB) beträgt 60, zusätzlich ist das Merkmal RF (ständig gehindert, an öffentlichen Veranstaltungen jeder Art teilzunehmen) gegeben. Nach der Beendigung der Sonderschule besuchte die Klägerin in 1999/2000 die Vorklasse (Textil/Hauswirtschaft) und in 2000/2001 einen Qualifikationslehrgang (Praktikum Floristin) zur Erlangung arbeitsmarktorientierter Grundfertigkeiten an dem Westfälischen Kolleg für Hörgeschädigte in D-Stadt. Seit März 2002 war die Klägerin mit dem Berufswunsch Floristenhelferin/Verkäuferin im Lagerbereich arbeitslos gemeldet. Im Jahr 2004 nahm die Klägerin an einer Berufsvorbereitungsmaßnahme für Behinderte, zunächst in der Grundstufe und ab 2005 in der Förderstufe teil. Nach der Beendigung des Lehrganges meldete sich die Klägerin erneut arbeitslos und erhielt Arbeitslosengeld II. Seit August 2005 wird die Klägerin bei der Berufsberatung nicht mehr als Bewerberin für eine berufliche Ausbildungsstelle geführt.

Das Kindergeld für die Klägerin wurde in der Vergangenheit zu Gunsten der Kindesmutter festgesetzt und im Wege der Abzweigung bis einschließlich August 2005 unmittelbar an die Klägerin gezahlt, weil die Kindesmutter keinen Unterhalt an die Klägerin leistet. Am 19. Juli/14. August 2005 beantragte die Kindesmutter die erneute Festsetzung des Kindergeldes unter gleichzeitiger Abtretung des Kindergeldes an die Klägerin.

Die Klägerin stellte am 18. August 2005 einen Antrag auf Auszahlung des Kindergeldes und teilte mit, sie sei Hartz IV Empfängerin. Sie bitte um einen begründeten Ablehnungsbescheid und werde in jedem Fall mit Hilfe des Sozialamtes Einspruch einlegen.

Die Beklagte lehnte den Antrag auf Kindergeld im an die Kindesmutter gerichteten Bescheid vom 2. Februar 2006 ab. Zur Begründung stellte sie darauf ab, dass die Klägerin weder als ausbildungsplatzsuchend gemeldet sei noch als behindertes Kind berücksichtigt werden könne, weil nach den vorliegenden Unterlagen die Behinderung nicht ursächlich dafür sei, dass die Tochter ihren Lebensunterhalt nicht selbst bestreiten könne.

Einen Abdruck der Entscheidung übersandte die Beklagte mit Schreiben vom 2. Februar 2006 an die Klägerin. Die Klägerin legte am 13. Februar 2006 Einspruch ein und machte geltend: Nach einem psychologischen Test des Arbeitsamtes E-Stadt sei ihr mitgeteilt worden, dass ihr schulisches Grundwissen nicht ausreichend sei und sie deshalb keine Ausbildung absolvieren könne. Leider sei ihre Schwerhörigkeit erst zu spät festgestellt worden. Nach dem Test sei sie auf Grund einer Maßnahme des Arbeitsamtes in einer Werkstätte in F-Stadt untergebracht worden und habe von Hartz IV gelebt. Ihre Schwerhörigkeit sei für sie auch eine seelische Behinderung, denn sobald die Umwelt ihre Hörgeräte sehe, bestünde Angst, mit ihr umzugehen. Jedes Vorstellungsgespräch ende mit einem „Nein, danke, Sie können ja nicht richtig hören”. Sie leide deshalb seit Monaten an Alpträumen und werde sich in eine psychologische Behandlung begeben müssen. Ein neuer Test sei schon vom Arbeitsamt angeregt worden.

Die Beklagte wies in der Entscheidung vom 27. Februar 2006 den Einspruch der Klägerin als unbegründet zurück und führte aus: Es lasse sich nicht feststellen, ob die Klägerin auf Grund ihrer Behinderung nicht in der Lage sei, selbst für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Sie habe sich mit einem mindestens dreistündigen täglichen Leistungsvermögen dem all...

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