Kommentar
Nach ständiger Rechtsprechung des BFH müssen zwar Bilanzen für Zwecke der Veranlagung und der Gewinnfeststellung grundsätzlich im Fehlerjahr und in den Folgejahren berichtigt werden. Ist eine solche Berichtigung aber nicht mehr möglich, weil die entsprechenden Feststellungs- und Veranlagungsbescheide bestandskräftig sind und nicht mehr geändert werden können, ist die Korrektur grundsätzlich in der Schlußbilanz des ersten Jahres nachzuholen, in welchem dies mit steuerlicher Wirkung möglich ist ( Bilanzänderung/-berichtigung ).
Der Senat verkennt nicht, daß die hierdurch bedingte Erhöhung des festzustellenden Gewinns in der Literatur vor allem im Hinblick auf den Wortlaut des § 4 EStG und mit Rücksicht auf die Geltungsgrenzen der Bestandskraft von Steuerbescheiden sowie das Rechtsinstitut der Verjährung auf Kritik gestoßen ist (vgl. insbesondere Weber-Grellet in Kirchhof/Söhn, EStG, § 4 Rdnr. C 33 ff., m.w. N.). Gleichwohl geben diese Erwägungen keine Veranlassung, von der langjährigen Rechtsprechung des BFH zum formellen Bilanzenzusammenhang abzurücken. Letzteres wäre nur dann gerechtfertigt, wenn hierfür schwerwiegende sachliche Gründe erkennbar wären, die es geboten erscheinen ließen, die Rechtswerte der Rechtssicherheit sowie des Vertrauensschutzes zurückzustellen. Gründe dieser Art vermag der Senat nicht zu erkennen; insbesondere sind die angesprochenen Einwände in der Rechtsprechung des BFH schon mehrfach ausführlich erörtert und gewürdigt worden.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 28.04.1998, VIII R 46/96
Anmerkung:
Mit dieser Entscheidung hat der BFH seine stets befürwortete Lehre vom formellen Bilanzenzusammenhang bestätigt und damit der von einem Teil der Literatur vertretenen Lehre vom materiellen Bilanzenzusammenhang einmal mehr eine Absage erteilt .
Im Streitfall war dem Finanzamt im Jahr 1989 durch eine Selbstanzeige der Klägerin bekannt geworden, daß diese bereits seit 1948 unzutreffend Teile ihres Vorratsvermögens nicht in ihren Bilanzen aktiviert hatte. Da zum Zeitpunkt der Selbstanzeige die Verjährungsfristen bis einschließlich 1977 bereits abgelaufen waren, erhöhte das Finanzamt in dem angefochtenen Gewinnfeststellungsbescheid 1978 den Gewinn der Klägerin um den vom Finanzamt in der Bilanz zum 31. 12. 1978 nachaktivierten Vorratsbestand von rd. 2,4 Mio. DM. Die Klägerin meinte demgegenüber, daß diese Bestandserhöhung bereits in ihrer Bilanz zum 31. 12. 1977 = 1. 1. 1978 zu erfassen gewesen sei mit der Folge, daß die daraus resultierenden Mehrsteuern wegen Ablaufs der Festsetzungsfristen nicht nacherhoben werden könnten.
M. E. ist die vom BFH vertretene Lehre vom formellen Bilanzenzusammenhang trotz einer Reihe von konstruktiv-dogmatischen Bedenken der Gegenauffassung vom materiellen Bilanzenzusammenhang wegen ihrer enormen praktischen Vorteile vorzuziehen. Sie bietet nämlich die Handhabe dafür, daß in der Vergangenheit unterlaufene Bilanzierungsfehler sowohl zugunsten wie zu Lasten des Steuerpflichtigen wenigstens mit Wirkung für die Zukunft „ausgebügelt” werden können. Ohne die Lehre vom formellen Bilanzenzusammenhang geriete jede Betriebsprüfung sowohl für den Prüfer als auch für den Steuerpflichtigen zur Tortur. Jeder Bilanzposten müßte hinsichtlich seines Ansatzes und seiner Bewertung genauestens „unter die Lupe genommen” werden. Zeitaufwendige Untersuchungen unter Einschluß der Einholung von Wertgutachten sowie (Rechts-)Streitigkeiten – insbesondere in bezug auf die Berechtigung von Teilwertabschreibungen sowie der Bildung und Auflösung von Rückstellungen – wären die Folge. Auch die Lehre vom materiellen Bilanzenzusammenhang könnte schwerlich ohne Ausnahmen und Korrektive auskommen, die von der Rechtsprechung erst noch herausgearbeitet werden müßten. Dies würde zumindest für eine Übergangszeit zu erheblichen Rechtsunsicherheiten führen.