Leitsatz
Beginnt das Kind nach erfolgreich abgeschlossenem Medizinstudium ein Dienstverhältnis an einer Klinik, das als Vorbereitungszeit zur Erlangung der Facharztqualifikation dient, ist ein Kindergeldanspruch während dieses Dienstverhältnisses mangels Vorliegens einer Berufsausbildung i.S. des § 63 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG ausgeschlossen, wenn bei einer Gesamtbetrachtung des Dienstverhältnisses der Erwerbscharakter und nicht der Ausbildungscharakter im Vordergrund steht.
Normenkette
§ 63 Abs. 1 Satz 2, § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a, Satz 2 EStG
Sachverhalt
Die Klägerin ist Mutter der 1997 geborenen Tochter X, die das Medizinstudium bereits im Dezember 2020 abschloss. Zum 1.1.2021 begann sie ihre mindestens 60 Monate umfassende Vorbereitungszeit zur Qualifikation als Fachärztin. Das hierzu mit einer Klinik abgeschlossene Dienstverhältnis umfasste eine regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit von 42 Stunden.
Die Familienkasse gewährte zunächst aufgrund des Medizinstudiums laufend Kindergeld. Im März 2021 hob sie die Kindergeldfestsetzung ab April 2021 auf, weil X ihr Hochschulstudium im März 2021 beenden werde, und lehnte mit weiterem Bescheid vom 16.3.2021 den Antrag auf Kindergeld ab April 2021 ab, weil X sich nicht mehr in einer Ausbildung i.S.d. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG befinde.
Die auf Kindergeld für Monat April 2021 beschränkte Klage wurde vom FG als unbegründet abgewiesen (Niedersächsisches FG, Urteil vom 17.11.2021, 9 K 114/21, Haufe-Index 15203551, EFG 2022, 1292).
Entscheidung
Der BFH wies die Revision als unbegründet zurück.
Hinweis
1. Der BFH vertritt einen sehr weiten Ausbildungsbegriff: Darunter fallen alle Maßnahmen, die der Vorbereitung auf ein Berufsziel dienen, d.h. bei denen Kenntnisse, Fähigkeiten und Erfahrungen erworben werden, die als Grundlagen für die Ausübung des angestrebten Berufs geeignet sind. Die Ausbildungsmaßnahmen müssen weder durch eine Ausbildungs- oder Studienordnung vorgeschrieben sein noch brauchen sie die Zeit und Arbeitskraft des Kindes überwiegend in Anspruch zu nehmen.
2. Dieser weite Ausbildungsbegriff (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG) wird jedoch eingeschränkt, wenn Ausbildungsmaßnahmen innerhalb eines Arbeits- oder Dienstverhältnisses durchgeführt werden: Dann muss die Erlangung beruflicher Qualifikationen, d.h. der Ausbildungscharakter, die Erbringung bezahlter Arbeitsleistungen, d.h. den Erwerbscharakter, überwiegen.
Dabei kommt es trotz des Monatsprinzips des § 66 Abs. 2 EStG nicht darauf an, ob im jeweils einzelnen Monat die Ausbildung oder die Erwerbstätigkeit im Vordergrund steht. Vielmehr sind solche Arbeits- und Dienstverhältnisse als Einheit zu betrachten und daraufhin zu untersuchen, ob "insgesamt" der Ausbildungs- oder der Erwerbscharakter überwiegt. Lehrgangsmonate in einem ansonsten üblichen Beschäftigungsverhältnis begründen daher keine monatsweise Berücksichtigung als Kind in Ausbildung (z.B. BFH, Urteil vom 7.7.2021, III R 24/19, BFH/NV 2021, 1486, betr. Zeitsoldat).
3. Das FG hatte die Klage abgewiesen, weil das Kind mit dem Medizinstudium die Erstausbildung abgeschlossen habe und die Arbeitsleistung während der sich anschließenden Facharztausbildung i.S.v. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG gegenüber den Weiterbildungsinhalten im Vordergrund gestanden habe.
Der BFH verneint den Kindergeldanspruch bereits auf der vorhergehenden Stufe: Weil die üblich bezahlte ärztliche Tätigkeit die Fortbildungsmaßnahmen nach den Feststellungen des FG weit überwogen hatte, fehlte es schon an der Ausbildung i.S.v. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG. Daher kam es auch nicht darauf an, ob die junge Ärztin sich im Rahmen des engeren Ausbildungsbegriffs des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG in der Erst- oder der Zweitausbildung befand.
4. Aufgrund der unter 2. beschriebenen Einschränkung des Ausbildungsbegriffs sollten sich Eltern, deren Kind einen berufliche Praxis voraussetzenden hohen Abschluss anstrebt (z.B. Prüfungsassistent, der Wirtschaftsprüfer werden will), keine Hoffnung machen, dass dessen "übliches" Gehalt durch Kindergeld aufgebessert wird.
Geringe Bezahlung ist demgegenüber eines der Kriterien, die für ein Überwiegen des Ausbildungscharakters und damit für eine Ausbildung und ggf. ein Ausbildungsdienstverhältnis sprechen können.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 22.9.2022 – III R 40/21