Leitsatz
1. Es stellt einen Verstoß gegen die Grundordnung des Verfahrens dar, wenn das FG auf eine gegen die Ablehnung der Abzweigung (§ 74 Abs. 1 EStG) gerichtete Klage die Familienkasse verpflichtet, Kindergeld zugunsten des Kindes festzusetzen.
2. Die nach § 64 Abs. 2 Satz 3, Abs. 3 Satz 4 EStG durch das Familiengericht zu treffende Entscheidung, welcher von mehreren gleichrangig Kindergeldberechtigten vorrangig bei der Kindergeldfestsetzung zu berücksichtigen ist, entfaltet keine Tatbestandswirkung für das Festsetzungsverfahren der Familienkasse, wenn sie unter Überschreitung des gesetzlichen Entscheidungsrahmens eine nach §§ 62f. EStG nicht kindergeldberechtigte Person (insbesondere das Kind selbst) zum Berechtigten bestimmt.
3. Die Familienkasse hat an dem Vorrangbestimmungsverfahren des Familiengerichts nach § 64 Abs. 2 Satz 3, Abs. 3 Satz 4 EStG mitzuwirken, indem sie gegenüber dem Familiengericht diejenigen gleichrangig Kindergeldberechtigten benennt, aus denen das Familiengericht den vorrangig Kindergeldberechtigten auszuwählen hat.
Normenkette
§ 64, § 67 Satz 2, § 74 Abs. 1 Satz 1 EStG, § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO
Sachverhalt
Die am 1.2.1985 geborene Klägerin befand sich vom 1.8.2009 bis zum 31.7.2011 in einer Berufsausbildung und lebte in einem eigenen Haushalt. Ihr Vater befand sich in einer Justizvollzugsanstalt, die Mutter unterhielt einen eigenen Hausstand. Beide Elternteile erbrachten keine Unterhaltsleistungen.
Im Oktober 2009 begehrte die Klägerin die Auszahlung des Kindergeldes an sich selbst. Ihr Vater weigerte sich, an der Beantragung des Kindergeldes mitzuwirken. Auf Anraten der Familienkasse beantragte die Klägerin beim Familiengericht, den vorrangig Kindergeldberechtigten zu bestimmen. Das Familiengericht bestimmte stattdessen die Klägerin selbst zur Bezugsberechtigten.
Die Familienkasse lehnte die Abzweigung des Kindergeldes an die Klägerin ab, weil nicht festgestellt werden könne, aus wessen Kindergeldanspruch das Kindergeld an die Klägerin ausgezahlt werden solle.
Nachdem das Familiengericht eine Änderung seines Beschlusses abgelehnt hatte, gab das FG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 19.7.2012, 5 K 2092/11, Haufe-Index 3609586, EFG 2013, 634) der gegen die Ablehnung der Abzweigung gerichteten Klage statt und verpflichtete die Familienkasse, der Klägerin für August 2009 bis Juli 2011 Kindergeld in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
Entscheidung
Der BFH hob das FG-Urteil auf und verwies die nicht spruchreife Sache zurück. Im zweiten Rechtsgang ist der fehlerhafte Beschluss des Familiengerichts zu ignorieren und die noch ausstehende Berechtigtenbestimmung durch das Familiengericht zu veranlassen, wobei die Familienkasse mitzuwirken hat. Außerdem ist zu beachten, dass die Klägerin ihr 25. Lebensjahr im Januar 2010 vollendet hatte.
Hinweis
1. Von der Festsetzung des Kindergeldes zugunsten eines Kindergeldberechtigten (i.d.R. ein Elternteil) ist die Auszahlung an einen Dritten (z.B. an das Kind oder einen Sozialhilfeträger) zu unterscheiden. Die Auszahlung an einen Dritten (sog. Abzweigung, § 74 Abs. 1 Satz 1 EStG) gehört nicht zum Festsetzungs-, sondern zum Auszahlungsverfahren, das dem Erhebungsverfahren entspricht, und betrifft nicht die Anspruchs-, sondern die Empfangsberechtigung.
2. Wenn ein Kind die Auszahlung des Kindergeldes an sich begehrt, weil die Eltern ihre Unterhaltspflicht verletzen, dann muss das Kindergeld zuvor festgesetzt werden. Den Antrag auf Festsetzung des Kindergeldes zugunsten eines Kindergeldberechtigten kann das Kind stellen, da es ein berechtigtes Interesse hat (§ 67 Satz 2 EStG).
3. Kompliziert wird es, wenn mehrere Kindergeldberechtigte vorhanden sind, die das Kind nicht in ihren Haushalt aufgenommen haben, keinen Unterhalt leisten und sich auch nicht auf einen von ihnen als Berechtigten einigen: In diesem Falle muss das Familiengericht den Berechtigten bestimmen, der das Kindergeld bei begründetem Abzweigungsantrag indessen nicht erhalten wird. Das FG hat ein die Abzweigung betreffendes Klageverfahren bis zur Entscheidung des Familiengerichts auszusetzen (§ 74 FGO).
4. Im vorliegenden Fall hatte das Familiengericht nicht, was nach § 64 Abs. 3 Satz 4 EStG seine Aufgabe gewesen wäre, einen der Elternteile zum Kindergeldberechtigten bestimmt, sondern das klagende Kind selbst. Es hat somit eine Nichtberechtigte zur Berechtigten gemacht. Nach Anfrage des FG lehnte es eine Änderung seines Beschlusses unter Berufung auf dessen Rechtskraft ab. Das FG, ersichtlich bemüht, aus der verfahrenen Situation durch eine pragmatische Entscheidung das Beste herauszuholen, gab der gegen die Ablehnung der Abzweigung gerichteten Klage des Kindes statt und verpflichtete die Familienkasse zur Kindergeldgewährung. Dadurch verstieß es aber gegen die Grundordnung des Verfahrens, denn es entschied statt über die Abzweigung über die Festsetzung des Kindergeldes.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 8.8.2013 – III R 3/13