Leitsatz
1. Art. 20 der Richtlinie 92/12/EWG (Systemrichtlinie) soll Kompetenzkonflikte zwischen den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft bei der Verbrauchbesteuerung von Erzeugnissen, die im Verfahren unter Steueraussetzung Gegenstand einer Zuwiderhandlung oder Unregelmäßigkeit waren, verhindern. Deshalb hat jeder der in den Absätzen 1 bis 3 dieser Vorschrift geregelten Fälle einer Zuwiderhandlung seinen eigenen Anwendungsbereich.
2. Art. 20 Abs. 3 der Systemrichtlinie erfasst die Fälle, in denen die Erzeugnisse nicht am Bestimmungsort eingetroffen sind und der Ort der Zuwiderhandlung nicht festgestellt werden konnte. Bestimmungsort ist bei einem auf Ausfuhr aus der Gemeinschaft angelegten Verfahren der Steueraussetzung, also auch in Fällen der Durchfuhr durch das deutsche Steuergebiet, der Ort der Zollstelle, bei der die Erzeugnisse die Gemeinschaft bestimmungsgemäß verlassen sollen (Ausgangszollstelle). In solchen Fällen kommt es auf irgendwelche von den Behörden des Bestimmungsmitgliedstaats getroffene Feststellungen zu der Natur der Unregelmäßigkeiten nicht an. Die Steuererhebungskompetenz steht dem Abgangsmitgliedstaat zu.
3. § 143 Abs. 2 BranntwMonG, der Art. 20 Abs. 2 der Systemrichtlinie in das nationale Recht umsetzen soll, stellt keine korrekte Umsetzung des Gemeinschaftsrechts dar, weil er die Fälle des Art. 20 Abs. 3 der Richtlinie (oben 2.) nicht von seiner Anwendung ausschließt und der Bu?desrepublik Deutschland dadurch eine Steuererhebungskompetenz zuschreibt, die ihr nicht zukommt. § 143 Abs. 2 BranntwMonG hat daher in solchen Fällen unangewendet zu bleiben (Anschluss an das EuGH-Urteil vom 12.12.2002, Rs. C-395/00 – Cipriani –, EuGHE 2002, I?11877).
Normenkette
Art. 4 Buchst. c Richtlinie 92/12/EWG (Systemrichtlinie) , Art. 19 Abs. 4 Richtlinie 92/12/EWG (Systemrichtlinie) , Art. 20 Abs. 1 bis 3 Richtlinie 92/12/EWG (Systemrichtlinie) , § 141 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BranntwMonG , § 143 Abs. 2 BranntwMonG
Sachverhalt
Ein elsässischer Hersteller von Wein und Spirituosen wurde vom HZA auf Branntweinsteuer in Anspruch genommen, weil er aus seinem Steuerlager in Frankreich zwei LKW-Ladungen Wodka im innergemeinschaftlichen Steuerversandverfahren (Steueraussetzungsverfahren) zur Ausfuhr nach Kasachstan versandt hatte. Als Ausfuhrzollstelle war in dem begleitenden Verw?ltungsdokument ein deutsches Zollamt angegeben.
Dort wurden die beiden Sendungen aber nicht vorgeführt; die Rückscheine, die die Ausfuhr bestätigen sollten, erwiesen sich als gefälscht. Ort und Zeitpunkt des Austauschs der Verwaltungsdokumente bzw. der Fälschungen konnten von den ermittelnden deutschen Behörden nicht festgestellt werden.
Entscheidung
Der BFH hat den Steuerbescheid unter Berufung auf das EuGH-Urteil in EuGHE 2002, I?11877 aufgehoben, § 143 Abs. 2 BranntwMonG ist keine taugliche Rechtsgrundlage für den Steueranspruch. Denn er ist nur anwendbar, wenn die Waren am Bestimmungsort eingetroffen sind. Deutschland steht folglich die Erhebungskompetenz nicht zu.
Hinweis
1. § 143 BranntwMonG dient der Umsetzung von Art. 20 der Systemrichtlinie. Er normiert Steuerentstehungstatbestände bei Unregelmäßigkeiten im Ablauf von Beförderungen unter Steueraussetzung in den Fällen der §§ 140 bis 142 BranntwMonG, die als Entziehen der Erzeugnisse aus dem Steueraussetzungsverfahren behandelt werden. Kompetenzkonflikte zwischen den Mitgliedstaaten bei der Besteuerung von Waren sollen so verhindert werden.
Art. 20 Abs. 1 weist die Erhebungskompetenz dem Mitgliedstaat zu, in dem die Zuwiderhandlung begangen wurde (1. Fall). Er kann nur eingreifen, wenn der Ort der Zuwiderhandlung feststeht. Steht zwar die Zuwiderhandlung, nicht aber der Ort der Zuwiderhandlung fest, fingiert Art. 20 Abs. 2 der Systemrichtlinie, dass diese als in dem Mitgliedstaat begangen gilt, in dem sie festgestellt worden ist, so dass diesem Mitgliedstaat die Erhebungskompetenz zusteht (2. Fall).
Kommt zu den Voraussetzungen des 2. Falls aber noch hinzu, dass die Waren nicht am Bestimmungsort vorgeführt werden, wird nach Art. 20 Abs. 3 der Systemrichtlinie – abweichend von der Grundregel des Abs. 2 – der Abgangsmitgliedstaat als Ort der Zuwiderhandlung fingiert, wodurch diesem die Erhebungskompetenz zufällt (zu Ausnahmen siehe Art. 20 Abs. 4 der Systemrichtlinie). Unter "Bestimmungsort" ist dabei die Zollstelle zu verstehen, bei der die Waren die Gemeinschaft bestimmungsgemäß verlassen sollten (Ausgangszollstelle) und wo folglich das innergemeinschaftliche Steuerversandverfahren enden sollte.
2. Die Vorgaben des Art. 20 der Systemrichtlinie hat der nationale Gesetzgeber nur unvollkommen in das nationale Recht (BranntwMonG) umgesetzt. § 143 Abs. 2 BranntwMonG weist im Fall der Beförderung von Erzeugnissen aus einem Steuerlager eines anderen Mitgliedstaats und Entziehung der Ware aus dem Steueraussetzungsverfahren, deren Ort nicht ermittelt werden kann, in Übereinstimmung mit Art. 20 Abs. 2 der Systemrichtlinie die Erhebungskompetenz Deutschland zu, wenn hier die Entziehung festgestellt wird. ...