Leitsatz
Ein Steuerbescheid ist auch bei einem erst nachträglich erkannten Verstoß gegen das Unionsrecht nicht unter günstigeren Bedingungen als bei einer Verletzung innerstaatlichen Rechts änderbar. Das Korrektursystem der §§ 172ff. AO regelt die Durchsetzung der sich aus dem Unionsrecht ergebenden Ansprüche abschließend. Nach den Vorgaben des Unionsrechts muss das steuerrechtliche Verfahrensrecht auch keine weitergehenden Korrekturmöglichkeiten für Steuerbescheide vorsehen (Bestätigung des BFH-Urteils vom 23.11.2006, V R 67/05, BFH/NV 2007, 630, BFH/PR 2007, 194).
Normenkette
§§ 110, 155, 172, 355 AO, Art. 10 EG, Art. 13 Teil B Buchst. f der 6. EG-RL
Sachverhalt
Das FA folgte in den Steuerbescheiden der Steuererklärung der Klägerin und behandelte deren Umsätze durch den Betrieb von Glücksspielautomaten mit Gewinnmöglichkeit als umsatzsteuerpflichtig. Nach Ablauf der Festsetzungsfrist für die Streitjahre und nach Kenntnis des EuGH-Urteils Linneweber berief sich die Klägerin auf die Nichtigkeit der Bescheide, erhob hilfsweise Einspruch und beantragte die Änderung der Bescheide.
Das FA verwarf die Einsprüche wegen Verfristung als unzulässig. Die hiergegen eingelegte Klage hat das FG abgewiesen (FG Münster vom 13.08.2009, 5 K 2022/07 U, Haufe-Index 2271193, EFG 2010, 364).
Entscheidung
Die wesentlichen Gesichtspunkte ergeben sich aus den Praxis-Hinweisen. Der Hinweis des BVerfG im Beschluss vom 04.09.2008, 2 BvR 1321/07 (BFH/NV 2009, 110), der EuGH habe die Fragen zur Durchbrechung der Bestandskraft unionsrechtswidriger belastender Verwaltungsakte der Mitgliedstaaten noch nicht erschöpfend beantwortet, beziehe sich nur auf die – für Steuerbescheide nicht maßgeblichen – Regelungen der §§ 48 Abs. 1 S. 1, 51 des VwVfG, die für rechtswidrige unanfechtbare Verwaltungsakte im allgemeinen Verwaltungsrecht unter bestimmten Voraussetzungen eine ermessensgebundene Überprüfungs- und Änderungspflicht vorsehen.
Ob die Voraussetzungen eines unionsrechtlichen Entschädigungsanspruchs vorliegen, ließ der BFH offen, weil bei Vorliegen der Voraussetzungen eines unionsrechtlichen Entschädigungsanspruchs nur ein Erlass der Steuer gem. § 227 AO in Betracht käme und darüber im vorliegenden Verfahren nicht entschieden werden könne. Für ein Vorabentscheidungsersuchen sah der BFH keinen Anlass.
Hinweis
Mit Urteil vom 17.02.2005 entschied der EuGH, Linneweber und Akritidis, C-453/02 und C-462/02 (BFH/NV Beilage 2005, 94), dass sich ein Veranstalter oder Betreiber von Glücksspielen oder Glücksspielgeräten auf die Steuerfreiheit dieser Umsätze berufen könne (Art. 13 Teil B Buchst. f der 6. EG-RL). Spielhallenbetreiber möchten daher die zu Unrecht gezahlte USt wieder zurückerhalten.
1. Steuerbescheide sind nicht schon deswegen nichtig (§ 125 AO), weil sie rechtswidrig sind. Für Verstöße gegen Unionsrecht ergeben sich insoweit keine Besonderheiten. Es ist keine andere Behandlung geboten als für einen Bescheid, der auf einer nicht verfassungskonformen Rechtsgrundlage beruht. Auch dessen Bestand bleibt hiervon unberührt (§ 79 Abs. 2 S. 1 BVerfGG).
2. Abgesehen von besonderen Umständen wie ein treuwidriges Verhalten der Verwaltung (sog. "Emmott´schen Fristenhemmung"), gelten für Ansprüche, die der Steuerpflichtige unmittelbar auf eine Unions-RL stützen kann, keine Besonderheiten. Ist die Frist für die Erhebung von Rechtsmitteln gegen einen Verwaltungsakt angemessen – wie hier für eine Frist von einem Monat vom EuGH bereits bestätigt –,verlangen die unionsrechtlichen Prinzipien der Effektivität und der Äquivalenz nur, dass die Mitgliedstaaten die verfahrensrechtlichen Fristen, die zur Durchsetzung des Unionsrechts einzuhalten sind, nicht ungünstiger ausgestalten darf, als in den nur das innerstaatliche Recht betreffenden Verfahren. Verwaltungsakte, die nach Ablauf einer angemessenen Frist nicht mehr anfechtbar sind, sind daher für die Beteiligten bindend, selbst wenn sie gegen das Unionsrecht verstoßen. Auf eine Besserstellung gegenüber einem Steuerpflichtigen, der die Rechtswidrigkeit eines entsprechenden Verwaltungsakts nur auf einen Verstoß gegen nationales Recht stützen kann, hat der Steuerpflichtige keinen Anspruch.
3. Die für den Erlass einer Verwaltungsentscheidung zuständige Behörde ist allerdings nach dem Grundsatz der Zusammenarbeit unter bestimmten Voraussetzungen verpflichtet, ihre Entscheidung zu überprüfen und zurückzunehmen. Vier Voraussetzungen müssen zusammen vorliegen: Die Behörde muss nach nationalem Recht befugt sein, die bestandskräftige Entscheidung zurückzunehmen. Die Entscheidung muss infolge eines Urteils eines in letzter Instanz entscheidenden nationalen Gerichts gegenüber dem die Änderung begehrenden Steuerpflichtigen bestandskräftig geworden sein. Drittens muss das Urteil, wie eine nach seinem Erlass ergangene Entscheidung des EuGH zeigt, auf einer unrichtigen Auslegung des Gemeinschaftsrechts beruhen, die erfolgt ist, ohne dass der EuGH um Vorabentscheidung ersucht worden ist, obwohl die Voraussetzungen einer Vorlage gem. Art. ...