Leitsatz
1. Wird ein Rechtsbehelf fehlerhaft an eine andere als die in der Rechtsbehelfsbelehrung benannte Behörde adressiert, so ist weder das Verhalten der empfangenden Behörde bei der Weiterleitung noch die Verzögerung des Eingangs bei der zuständigen Behörde geeignet, die Sorgfaltspflichtverletzung des Absenders oder die Kausalität seines Verhaltens für die Fristversäumnis entfallen zu lassen.
2. Die einen fehlgeleiteten Schriftsatz empfangende Behörde ist nicht verpflichtet, diesen auf seinen rechtlichen Gehalt zu überprüfen, ggf. den richtigen Adressaten zu ermitteln und das Schriftstück unverzüglich weiterzuleiten.
3. Eine etwaige Fehlleitung der unzuständigen Behörde bei der Weiterleitung eines Rechtsbehelfs führt im Fall der Fristversäumnis jedenfalls bei einer falschen Bezeichnung der Rechtsbehelfsbehörde in der Regel nicht zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.
Normenkette
§§ 110 Abs. 1 Satz 1 und 2, 357 Abs. 2 AO
Sachverhalt
Das Büro des Bevollmächtigten hatte den Einspruch gegen einen Haftungsbescheid nicht an das FA adressiert, das den Bescheid erlassen hatte, sondern an das zuvor tätig gewesene FA für Steuerstrafsachen und Steuerfahndung. Der Fehler war dem unterzeichneten Rechtsanwalt nicht aufgefallen. Beim FA war der Schriftsatz eine Woche vor Ablauf der Rechtsbehelfsfrist eingegangen und zwei Tage später dem Sachbearbeiter vorgelegt worden, der ihn indes für eine Information über einen anderweit eingelegten Einspruch hielt und zu seiner Akte nahm.
Das FG hat Wiedereinsetzung wegen der aufgrund dieses Geschehensablaufs versäumten Einspruchsfrist gewährt.
Entscheidung
Der BFH hält die Wiedereinsetzungsvoraussetzungen im Anschluss an seine ständige Rechtsprechung, insbesondere das Urteil in BFH/NV 1993, 219 nicht für gegeben.
Ein sog. überholendes Verschulden der Behörde hebe grundsätzlich nicht die Kausalität des Verschuldens des Rechtsbehelfsführers, der seine Rechtsbehelfsschrift falsch adressiere, an der Fristversäumnis auf. Ausnahmefälle (bei "besonderen Rechtfertigungsgründen") hält der BFH offenbar für möglich. Er hat ihr Vorliegen im Streitfall aber verneint.
Hinweis
1. Ein Prozessbevollmächtigter trägt die Verantwortung dafür, dass eine Rechtsbehelfsschrift rechtzeitig bei der richtigen Behörde bzw. dem zuständigen Gericht eingeht. Seine persönliche Verantwortlichkeit betrifft zwar nicht die Richtigkeit der gesamten postalischen Anschrift (Straße und Hausnummer, Postleitzahl oder Telefaxnummer), wohl aber die richtige Bezeichnung des Gerichts oder der Behörde. Zumindest dann, wenn der Fehler in der Bezeichnung des Adressaten leicht erkennbar ist, kann er sich für Fehler seines Personals nicht entschuldigen. Er muss insoweit die Richtigkeit der Angaben selbst prüfen. Das dürfte erst recht gelten, wenn es um die Auswahl unter mehreren in Betracht kommenden Adressaten geht.
2. Eine Behörde ist aber verpflichtet, von ihr erkannte Fehler des Bürgers oder seines Bevollmächtigten zu beheben, etwa dadurch, dass sie die erkennbar versehentlich falsch adressierte Rechtsbehelfsschrift an den richtigen (zuständigen) Adressaten weiterleitet.
Das Problem ist, wie weit diese Verpflichtung reicht, insbesondere ob von der Behörde zu verlangen ist, dass sie ihren Posteingang alsbald daraufhin überprüft, ob sich darunter falsch adressierte Schriftsätze befinden.
4. Der BFH hat eine solche Pflicht zur unverzüglichen Sichtung des Posteingangs und eine daraus folgende Pflicht zur Weiterleitung falsch adressierter Schriftsätze grundsätzlich verneint. Wiedereinsetzung scheidet folglich in solchen Fällen aus.
Der BFH ist sich aber nicht völlig sicher, ob ausnahmsweise – z.B. bei "willkürlichem, offenkundig nachlässigem und nachgewiesenem Fehlverhalten" der Behörde – unter Umständen anders zu entscheiden sein könnte und die Verantwortlichkeit des Absenders (bzw. seines Bevollmächtigten) entfällt.
5. Anders sollen im Übrigen diese Dinge nach dem BVerfG-Beschluss in BVerfGE 93, 99, NJW 1995, 3173 dann liegen, wenn das als Adressat angegebene (für die Einlegung des Rechtsbehelfs unzuständige) Gericht vorher selbst mit der Sache befasst war und deshalb eine "nachwirkende Fürsorgepflicht" eingreife, die Rechtsmittelschrift an das Rechtsmittelgericht weiterzuleiten. Werde dieser Pflicht nicht entsprochen, müsse Wiedereinsetzung gewährt werden – eine bürgerfreundliche Entscheidung, deren rechtliche Begründung und deren Übertragbarkeit auf andere, mehr oder weniger ähnlich gelagerte Sachverhalte freilich vage sind.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 19.12.2000, VII R 7/99