Leitsatz
1. Entgegen V 5.2 Abs. 1 Satz 1 und 2 der Dienstanweisung des Bundeszentralamts für Steuern zum Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz 2023 (DA‐KG 2023) enthält § 67 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) kein Unterschriftserfordernis.
2. An die Form eines Kindergeldantrags sind keine hohen Anforderungen zu stellen, da das Kindergeld der Wahrung des Grundsatzes der Steuerfreiheit des Existenzminimums und der Förderung der Familie dient.
Normenkette
§ 87a Abs. 3 Sätze 1 und 2, § 218 Abs. 1 Satz 2 AO, § 66 Abs. 3 EStG 2017, § 67 Satz 1, § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG 2019, V 5.2 Abs. 1 Sätze 1 und 2 DA-KG 2023
Sachverhalt
Die Klägerin ist die Mutter von zwei Kindern. Am 16.7.2019 schrieb sie eine E-Mail an die Familienkasse, in der sie unter Nennung der Kindergeldnummer, ihres Namens, ihrer Adresse und Telefonnummer beanstandete, dass sie seit Mai 2018 kein Kindergeld mehr erhalten habe. Die Familienkasse teilte daraufhin mit, dass die Kindergeldfestsetzung aufgehoben worden sei, weil die Kinder nicht mehr im Haushalt des bisherigen Kindergeldberechtigten lebten. Die Klägerin müsse zunächst selbst einen Kindergeldantrag stellen. Nachdem die Klägerin keine weiteren Unterlagen einreichte, lehnte die Familienkasse den "formlose(n) Antrag auf Kindergeld vom 16. 7.2019" ab dem Monat Mai 2018 ab. Die Klägerin reichte daraufhin mit E-Mail vom 14.11.2019 das ausgefüllte und unterschriebene Antragsformular ein. Die Familienkasse setzte Kindergeld ab Mai 2018 fest, wies jedoch darauf hin, dass das Kindergeld wegen der Ausschlussfrist des § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG n.F. nur für Mai 2019 bis Dezember 2019 ausgezahlt werde. Den Einspruch behandelte die Familienkasse als Antrag auf Erlass eines Abrechnungsbescheids und entschied, dass die Klägerin für Mai 2018 bis April 2019 keinen Auszahlungsanspruch habe. Das FG (FG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 6.7.2021, 5 K 1714/20, Haufe-Index 15070413) hob den Abrechnungsbescheid auf und verpflichtete die Familienkasse, das Kindergeld für Mai 2018 bis April 2019 an die Klägerin auszuzahlen.
Entscheidung
Der BFH bestätigte die FG-Entscheidung insoweit, als diese von einem Auszahlungsanspruch für Mai 2018 bis April 2019 ausging, da die Familienkasse für diesen Zeitraum Kindergeld festgesetzt habe. Eine Auszahlungsbeschränkung nach § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG n.F. bestehe nicht, da die Klägerin bereits vor dessen Anwendbarkeit mit E-Mail vom 16.7.2019 wirksam Kindergeld beantragt habe. Anders als das FG hob der BFH den Abrechnungsbescheid jedoch nicht auf, sondern korrigierte ihn.
Hinweis
1. Gemäß § 218 Abs. 2 Satz 1 AO entscheidet die Finanzbehörde über Streitigkeiten, die die Verwirklichung der Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis betreffen, durch Abrechnungsbescheid. Das gilt auch für den Fall, dass die Familienkasse zwar Kindergeld festgesetzt hat, sich aber wegen Eingreifens der Ausschlussfrist des § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG n.F. darauf beruft, dass dem Kindergeldberechtigten kein Auszahlungsanspruch zusteht. Im Abrechnungsbescheid wird darüber entschieden, ob und in welcher Höhe dem Kindergeldberechtigten ein Auszahlungsanspruch zusteht. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung des Bestehens eines Auszahlungsanspruchs ist die letzte Verwaltungsentscheidung über die Abrechnung. Das ist regelmäßig der Zeitpunkt des Erlasses der Einspruchsentscheidung im Abrechnungsverfahren. Ausgangspunkt ist die zu diesem Zeitpunkt wirksame Kindergeldfestsetzung, ohne dass es auf deren Rechtmäßigkeit oder Bestandskraft ankommt. Hat die Familienkasse – wie in der Praxis häufig der Fall – die frühere Ausschlussfrist des § 66 Abs. 3 EStG zu Unrecht nicht im Festsetzungs-, sondern im Erhebungsverfahren angewandt und eine rechtswidrige Kindergeldfestsetzung vorgenommen, ist auch diese rechtswidrige Kindergeldfestsetzung im Abrechnungsverfahren zu berücksichtigen.
2. Im Abrechnungsverfahren sind dem Erhebungsverfahren zuzurechnende Erlöschensgründe (z.B. Erfüllung) und Auszahlungsbeschränkungen (z.B. Auszahlungsbeschränkung nach § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG) zu berücksichtigen. Dabei betrifft § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG nur nach dem 18.7.2019 eingegangene Kindergeldanträge. Für nach dem 31.12.2017 und vor dem 18.7.2019 eingegangene Kindergeldanträge gilt nur die Ausschlussfrist des § 66 Abs. 3 EStG a.F., die allerdings bereits im Festsetzungsverfahren zu berücksichtigen ist. Für am 18.7.2019 eingegangene Anträge gilt keine der beiden Ausschlussfristen.
3. Für die Form des Kindergeldantrags sah § 67 Satz 1 EStG in der bis 9.12.2020 geltenden Fassung vor, dass dieser "schriftlich" zu stellen ist. Mit Wirkung ab 10.12.2020 wurde ein 2. Halbsatz eingefügt, wonach eine elektronische Antragstellung nach amtlich vorgeschriebenem Datensatz über die amtlich vorgeschriebene Schnittstelle zulässig ist, soweit der Zugang eröffnet wurde. Was der Begriff "schriftlich" bedeutet, lässt sich aus dem Wortlaut nicht eindeutig entnehmen. Aus dem Sinn und Zweck ergibt sich jedoch, dass weder die Verwendung eines amtlichen Formulars noch ei...