Dr. Fabian Schmitz-Herscheidt
Leitsatz
1. Die für die Anzahl der Prüfer und den Umgang mit etwaigen Bewertungsdifferenzen in §§ 35, 37b des Steuerberatungsgesetzes und §§ 10 und 24 der Verordnung zur Durchführung der Vorschriften über Steuerberater, Steuerbevollmächtigte und Berufsausübungsgesellschaften (DVStB) getroffenen Regelungen für die Steuerberaterprüfung genügen der verfassungsrechtlichen Vorgabe, dass es diesbezüglich in Berufszugangsprüfungen einer rechtssatzmäßigen Festlegung bedarf.
2. Das in § 29 DVStB vorgesehene Überdenkungsverfahren erfordert eine eigenständige und unabhängige Überprüfung durch die hierfür zuständigen Prüfer. Eine gemeinsam abgestimmte Überdenkung von Klausurbewertungen durch eine Prüfermehrheit ist anders als eine "offene" Überdenkung unzulässig. Eine Abstimmung und Beratung über die zu vergebende Note ist allenfalls im Nachgang zu einer schriftlichen Fixierung des Ergebnisses des jeweiligen Überdenkens zulässig (Anschluss an Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts – BVerwG – vom 09.10.2012 – 6 B 39.12; BVerwG-Urteil vom 10.04.2019 – 6 C 19.18; Bestätigung der Senatsrechtsprechung, Urteil vom 11.07.2023 – VII R 10/20).
Normenkette
§ 35, § 37b StBerG, Art. 3, Art. 12 Abs. 1 GG, § 10, § 24, § 29 DVStB
Sachverhalt
Die Klägerin nahm nach zwei vorherigen erfolglosen Versuchen an der Steuerberaterprüfung 2017 teil, wurde jedoch wegen nicht ausreichender schriftlicher Leistungen nicht zur mündlichen Prüfung zugelassen. Dagegen erhob sie Klage vor dem FG und beantragte parallel das verwaltungsinterne Überdenkungsverfahren nach § 29 DVStB in Bezug auf zwei Aufsichtsarbeiten ("Ertragsteuern" und "Bilanzwesen"). Während der Erstprüfer der Aufsichtsarbeit "Ertragsteuern" schriftlich zu den Einwendungen der Klägerin Stellung nahm, teilte der Zweitprüfer der Steuerberaterkammer per E‐Mail mit, dass er sich bereits im Vorfeld mit dem Erstkorrektor abgestimmt habe und deshalb der mit dem Erstkorrektor abgestimmten Stellungnahme vollumfänglich zustimme. Die beiden Prüfer der zweiten Aufsichtsarbeit ("Bilanzwesen") nahmen hingegen unabhängig voneinander Stellung.
Das FG (FG München, Außensenate Augsburg, Urteil vom 24.3.2021, 4 K 264/18, EFG 2021, 1055, Haufe-Index 14473173) wies die Klage ab, da es keinen relevanten Verfahrensverstoß erkannte. Die Klägerin wandte sich im Revisionsverfahren zum einen gegen das Ergebnis des Überdenkungsverfahrens. Zum anderen war sie der Auffassung, § 24 Abs. 2 DVStB verstoße gegen höherrangiges Recht, weil die konkrete Zahl der Prüfer durch diese Vorschrift nicht rechtssatzmäßig festgelegt werde.
Entscheidung
Der BFH hob die Vorentscheidung sowie den angefochtenen Bescheid auf und verpflichtete das beklagte Finanzministerium (vertreten durch die Steuerberaterkammer), die von der Klägerin angefertigte Aufsichtsarbeit "Ertragsteuern" unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts durch andere Prüfer neu bewerten zu lassen und unter Berücksichtigung der Neubewertung einen neuen Bescheid zu erlassen.
Hinweis
1. Prüfungsentscheidungen können nach ständiger Rechtsprechung gerichtlich nur beschränkt überprüft werden. Prüferische Bewertungen sind von den Erfahrungen und Wertvorstellungen des einzelnen Prüfers abhängig und damit unvertretbare höchstpersönliche Urteile. Das Gericht kann daher nur prüfen, ob die Prüfungsentscheidung an fachlichen Beurteilungsmängeln leidet, ob die Prüfer den prüferischen Bewertungsspielraum überschritten haben und ob die für die Prüfung maßgebenden Verfahrensbestimmungen eingehalten worden sind (BFH, Urteil vom 11.7.2023, VII R 10/20, BFH/NV 2024, 245, Rz. 30).
2. Eine gemeinsam abgestimmte Überdenkung von Klausuren durch Erst- und Zweitprüfer (§ 29 DVStB) wird dem Erfordernis der eigenständigen und unabhängigen Urteilsbildung und dem Gebot der fairen Gestaltung des Prüfungsverfahrens nicht gerecht und erweist sich damit als rechtswidrig.
a) Das in Art. 12 Abs. 1 GG verankerte Erfordernis der eigenständigen und unabhängigen Urteilsbildung der Prüfer wird durch eine Verfahrensgestaltung verletzt, die es den Prüfern im Rahmen des Überdenkungsverfahrens ermöglicht, eine gemeinsame Stellungnahme zu den Einwänden des Prüflings auf Grundlage eines entsprechenden, vom Erstprüfer gefertigten Entwurfs und einer nachfolgenden Beratung zwischen ihnen abzugeben, die stattfindet, ohne dass die Prüfer zuvor das Ergebnis ihres Überdenkens schriftlich niedergelegt haben (vgl. BVerwG-Beschluss vom 9.10.2012, 6 B 39.12, Haufe-Index 3456385, Rz. 8). Eine Abstimmung und Beratung über die zu vergebende Note ist hiernach allenfalls im Nachgang hierzu zulässig.
b) Die eigenständige Überdenkung der Prüfungsleistung durch die Prüfer in Kenntnis des vom anderen Prüfer bereits gefundenen Ergebnisses – gewissermaßen eine "offene" Überdenkung – ist mit dem prüfungsrechtlichen Gebot der Chancengleichheit und dem Gebot der fairen Gestaltung des Prüfungsverfahrens hingegen vereinbar.
3. Nach dem prüfungsrechtlichen Gebot der Chancengleichheit in Berufszugangsprüfungen bedarf es der rechtssatzmäßigen Festl...