Rz. 1071
Der Geschäftsführer ist nach ständiger Rechtsprechung des BGH verpflichtet, die Zahlungsfähigkeit und eine etwaige Überschuldung des von ihm geleiteten Unternehmens im Auge zu behalten und auf eventuelle Anzeichen für eine Insolvenzreife zu reagieren. Zu diesem Zweck muss er für eine Organisation sorgen, die ihm die zur Wahrnehmung seiner Pflichten erforderliche Übersicht über die wirtschaftliche und finanzielle Situation der Gesellschaft jederzeit ermöglicht; verfügt er selbst nicht über ausreichende persönliche Kenntnisse, muss er sich gegebenenfalls fachkundig beraten lassen. Der Geschäftsführer darf sich dabei nicht auf den Steuerberater des Unternehmens verlassen: Es ist nicht Aufgabe des mit der allgemeinen steuerlichen Beratung beauftragten Beraters, die Gesellschaft bei einer Unterdeckung in der Handelsbilanz darauf hinzuweisen, dass es die Pflicht des Geschäftsführers ist, eine Überprüfung vorzunehmen oder in Auftrag zu geben, ob Insolvenzreife eingetreten ist und gegebenenfalls gem. § 15a InsO Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens gestellt werden muss. Die im Schrifttum mehrheitlich und vereinzelt auch in der Rechtsprechung vertretene Auffassung, der Steuerberater habe im Rahmen seiner Vertragspflichten zur Beratung und Schadensverhütung kraft seines überlegenen Wissens den Geschäftsführer über seine Pflichten in der Krise aufzuklären (Aufstellung einer Überschuldungsbilanz zur Klärung der Insolvenzreife, ggf. fristgerechter Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens, wenn Überschuldung der Gesellschaft gem. § 19 Absatz 2 InsO unmittelbar droht oder bereits eingetreten ist), wird vom BGH ausdrücklich verworfen. Eine derartige Verpflichtung ist nach Auffassung des BGH mit der Beschränkung der Pflichten des Steuerberaters auf die steuerliche Beratung bei einem allgemeinen steuerrechtlichen Mandat nicht in Übereinstimmung zu bringen.
Auch dann, wenn der Steuerberater mit der Erstellung der Steuerbilanz betraut wird und im Bilanzbericht den Hinweis aufnimmt, dass nur eine "Überschuldung rein bilanzieller Natur" (nicht aber eine insolvenzrechtlich relevante Überschuldung) vorliege, wird der Geschäftsführer hierdurch nicht exkulpiert, wenn dieser Hinweis falsch ist und in Wahrheit Insolvenzreife und damit eine Insolvenzantragspflicht vorliegt. Ein derartiger Hinweis des mit der Erstellung der Steuerbilanz betrauten Steuerberaters entbindet den Geschäftsführer nicht von seiner Verpflichtung, die wirtschaftliche und finanzielle Situation des Unternehmens eigenständig zu prüfen. Dies gilt auch dann, wenn die Gesellschaft prüfungspflichtig ist und der Abschlussprüfer attestiert, dass keine Insolvenzreife vorliegt.
Rz. 1072
Der Geschäftsführer haftet, wenn er entgegen § 64 Satz 1 und 2 GmbHG nach Eintritt der Insolvenzreife (Eintritt von Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung) noch Zahlungen leistet. Nach Eintritt der Insolvenzreife sind nach § 64 Satz 2 GmbHG nur noch solche Zahlungen erlaubt, die dann noch "mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters vereinbar sind", d. h.
- die masseneutral sind (also zu einer wertdeckenden Gegenleistung führen), oder
- die erbracht werden müssen, um Sanierungsbemühungen innerhalb der Frist des § 64 Satz 1 GmbHG nicht von vornherein zum Scheitern zu verurteilen sowie
- Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung.
- Umgekehrt haftet der Geschäftsführer gem. § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. §§ 266a Abs. 1, 14 Abs. 1 Nr. 1 StGB, wenn er Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung nicht abführt, obwohl die Gesellschaft noch zahlungsfähig ist. Im Streitfall muss der klagende Sozialversicherungsträger alle Umstände darlegen und beweisen, aus denen sich die Verwirklichung von § 266a StGB ergibt, einschließlich des Vorsatzes des Geschäftsführers.
Rz. 1073
Der (fakultative) Aufsichtsrat und der mit der Überwachung der Geschäftsführung betraute Beirat hat, wenn er feststellt, dass die Gesellschaft insolvenzreif ist, darauf hinzuwirken, dass der Geschäftsführer einen Insolvenzantrag stellt und keine Zahlungen mehr leistet, die (nach Maßgabe des in vorstehendem Absatz Gesagten) "nicht mit der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmannes vereinbar sind." Nimmt das Aufsichtsorgan diese Aufgaben nicht wahr und werden Zahlungen entgegen § 64 Satz 1 GmbHG geleistet, so tritt nicht zwangsläufig eine Haftung der Mitglieder des Aufsichtsorgans ein. Denn § 52 Abs. 1 GmbHG enthält keinen Verweis auf § 93 Abs. 3 Nr. 6 AktG, der die erforderliche Haftungsgrundlage gegenüber Gesellschaftsgläubigern bei Schmälerung der Insolvenzmasse bildet, indem er den Schaden der Gläubiger einem Schaden der Gesellschaft gleichstellt. Eine Haftung der Beiratsmitglieder kommt mithin nur in Betracht, wenn der Gesellschaft selbst ein Schaden entsteht, die reine Schmälerung der Insolvenzmasse reicht nicht aus. Der fehlende Verweis auf diese Vorschrift – und das damit verbundene Fehlen einer Haftungsgrundlage gegenüber Gesellschaftsgläubigern – gründet in ...