Leitsatz
1. Art. 76 Abs. 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 ist nach dem EuGH-Urteil vom 6. November 2014 (C 4/13) dahin auszulegen, dass diese Vorschrift dem Beschäftigungsmitgliedstaat erlaubt, in seinen Rechtsvorschriften ein Ruhen des Anspruchs auf Familienleistungen vorzusehen, wenn im Wohnmitgliedstaat kein Antrag auf Gewährung von Familienleistungen gestellt worden ist.
2. § 65 EStG in unionsrechtskonformer Auslegung erfüllt die Voraussetzungen für die in Art. 76 Abs. 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 vorgesehene Ermächtigung.
Normenkette
§ 65 EStG, Art. 76 Abs. 1 und Abs. 2 VO Nr. 1408/71
Sachverhalt
Die Klägerin ist Mutter eines 1995 geborenen Sohnes S. Sie ist deutsche Staatsangehörige und im Inland sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Das FA behandelte sie gemäß § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig. Ihr Ehemann und Vater von S ist Belgier. Er arbeitete seit November 2006 bei einer belgischen Zeitarbeitsfirma, zuvor war er arbeitslos gewesen. Die Familie lebte zunächst in Deutschland und zog im Juni 2006 nach Belgien.
Die Klägerin erhielt deutsches Kindergeld für S. Ihr Ehemann hatte in Belgien kein Kindergeld beantragt. Als die Familienkasse vom Umzug nach Belgien erfuhr, hob sie die Kindergeldfestsetzung mit Wirkung ab Juli 2006 auf und forderte das für Juli 2006 bis März 2007 gezahlte Kindergeld zurück. Auf den Einspruch hin gewährte die Familienkasse (Differenz-)Kindergeld unter Anrechnung des belgischen Kindergeldanspruchs.
Die Klage auf ungeschmälertes Kindergeld hatte Erfolg. Das FG Düsseldorf (Urteil vom 18.5.2009, 14 K 1750/08 Kg, EFG 2009, 1302, Haufe-Index 2182278) erachtete den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid als rechtswidrig, weil die Anrechnung der nicht beantragten belgischen Familienleistung auf das deutsche Kindergeld in das Ermessen der Familienkasse gestellt sei; diese habe zu Unrecht eine gebundene Entscheidung angenommen.
Entscheidung
Die Revision der Familienkasse hatte Erfolg. Nach Aussetzung des Verfahrens und der Vorabentscheidung des EuGH hob der BFH das FG-Urteil auf und wies die Klage auf ungeschmälertes Kindergeld ab.
Hinweis
1. Der BFH hatte dem EuGH mit Beschluss vom 27.9.2012, III R 40/09 (BFH/NV 2013, 302, BFH/PR 2013, 87) Fragen zur Anspruchskumulierung in grenzüberschreitenden Fällen vorgelegt, auf die der EuGH mit Urteil vom 6.11.2014 (C‐4/13, EU:C:2014:2344, HFR 2015, 86) wie folgt entschieden hat:
"Art. 76 Abs. 2 der VO Nr. 1408/71 … ist dahin auszulegen, dass er es dem Beschäftigungsmitgliedstaat erlaubt, in seinen Rechtsvorschriften vorzusehen, dass der zuständige Träger den Anspruch auf Familienleistungen ruhen lässt, wenn im Wohnmitgliedstaat kein Antrag auf Gewährung von Familienleistungen gestellt worden ist. Unter diesen Umständen ist der zuständige Träger, falls der Beschäftigungsmitgliedstaat in seinen innerstaatlichen Rechtsvorschriften ein solches Ruhenlassen des Anspruchs auf Familienleistungen vorsieht, bei Vorliegen der in diesen Rechtsvorschriften aufgestellten Voraussetzungen nach Art. 76 Abs. 2 verpflichtet, den Anspruch ruhen zu lassen, ohne dass er insoweit über ein Ermessen verfügt."
2. Auf dieser Grundlage hat der BFH entschieden, dass § 65 EStG die Voraussetzungen für die in Art. 76 Abs. 2 der VO Nr. 1408/71 vorgesehene Ermächtigung erfüllt. § 65 EStG ist allerdings bei eröffnetem Anwendungsbereich der VO Nr. 1408/71 unionsrechtswidrig, soweit er nicht lediglich zu einer Kürzung des Kindergeldes um die in einem anderen Mitgliedstaat zustehende vergleichbaren Leistung führt, sondern zum vollständigen Ausschluss des Kindergeldanspruchs (Urteil Hudzinski und Wawrzyniak, C‐611/10 und C‐612/10, EU:C:2012:339, ABlEU 2012, Nr. C 227, 4). § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG ist daher wegen des Anwendungsvorrangs des EU-Rechts normerhaltend dahin auszulegen, dass der unionsrechtswidrige Ausschluss ausscheidet und nur eine Kürzung um den im EU-Ausland bestehenden Kindergeldanspruch in Betracht zu ziehen ist. Bei unterbliebener Beantragung im Wohnsitzmitgliedstaat verbleibt mithin ein Anspruch auf deutsches (Differenz-)Kindergeld.
3.Zur Abgrenzung: Deutschland darf als Wohnmitgliedstaat den (nicht von der Ausübung einer Erwerbstätigkeit abhängigen) Kindergeldanspruch nach der VO Nr. 1408/71 nicht teilweise aussetzen, wenn der frühere Ehegatte und andere Elternteil der Kinder im Ausland einer Beschäftigung nachgeht und dort keine Familienleistungen bezieht, weil er keinen Antrag gestellt hat (EuGH, Urteil vom 14.10.2010, C-16/09, Haufe-Index 2708744). Wohnen die Kinder im Ausland, der Kindergeldberechtigte hingegen (auch) im Inland, ohne aber wegen seiner Erfassung in einem Zweig der Sozialversicherung den gemeinschaftsrechtlichen Antikumulierungsvorschriften (Art. 76 VO Nr. 1408/71, Art. 10 VO Nr. 574/72) zu unterliegen, so wird der deutsche Kindergeldanspruch durch einen ihm oder einem Dritten zustehenden ausländischem Anspruch auf Gewährung dem Kindergeld vergleichbarer Leistungen nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG vollständig ausg...