Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfassungsmäßigkeit des Grundfreibetrags im Aussetzungsverfahren - Berücksichtigung der Notwendigkeit geordneter Haushaltsführung im Aussetzungsverfahren
Leitsatz (amtlich)
Gegen die Höhe der Grundfreibeträge nach § 32a Abs.1 EStG in den für die Jahre 1978 bis 1983 geltenden Fassungen (für die Jahre 1978 bis 1980 zuzüglich des allgemeinen Tariffreibetrages nach § 32 Abs.8 Satz 1 EStG 1977) bestehen keine ernsten verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn dem Steuerpflichtigen unabhängig von der Höhe des Grundfreibetrages und unter Berücksichtigung der abzuführenden Steuer ausreichende Mittel zur Bestreitung seines Lebensunterhalts verbleiben (Abgrenzung zum Beschluß vom 25.Juli 1991 III B 555/90, BFHE 164, 570).
Orientierungssatz
Auch ernste verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Gültigkeit eines Gesetzes können die Aussetzung der Vollziehung eines Bescheids rechtfertigen (vgl. BVerfG-Urteil vom 21.2.1961 1 BvR 314/60). In diesem Fall ist allerdings zusätzlich ein (besonderes) berechtigtes Interesse des Antragstellers an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes erforderlich. Dieses kann z.B. wegen eines überwiegenden öffentlichen Interesses, insbesondere dem einer geordneten öffentlichen Haushaltswirtschaft, an der Vollziehung des Bescheids zu verneinen sein (Festhaltung an BFH-Rechtsprechung).
Normenkette
EStG § 33a Abs. 1; EStG 1977 § 32 Abs. 8 S. 1; GG Art. 1 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1; FGO § 69 Abs. 2
Tatbestand
Die Kläger, Antragsteller und Beschwerdegegner (Kläger) werden gemeinsam zur Einkommensteuer veranlagt. In ihren Steuererklärungen für die Streitjahre 1978 bis 1983 erklärten sie u.a. Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung, über deren Höhe es im Veranlagungs- bzw. Einspruchsverfahren zu Meinungsverschiedenheiten mit dem Beklagten, Antragsgegner und Beschwerdeführer (Finanzamt --FA--) kam.
Nach den Einspruchsentscheidungen des FA beläuft sich das zu versteuernde Einkommen in den Streitjahren auf Beträge zwischen 1,6 Mio und 3,4 Mio DM. Mit den gegen die Einspruchsentscheidungen erhobenen Klagen beantragen die Kläger, die in den Einspruchsentscheidungen festgesetzte Einkommensteuer der Streitjahre um Beträge zwischen 36 000 DM und 702 000 DM herabzusetzen. Über die Klagen ist noch nicht entschieden.
Während des Klageverfahrens beantragten die Kläger beim Finanzgericht (FG), die Vollziehung der angefochtenen Einkommensteuerbescheide in Höhe von Beträgen zwischen 21 000 DM und 859 000 DM auszusetzen.
Das FG gab den Anträgen u.a. bzw. nur insoweit statt, als es die Vollziehung der angefochtenen Einkommensteuerbescheide in der Form der Einspruchsentscheidungen in Höhe der auf den Differenzbetrag zwischen den Grundfreibeträgen (für 1978 bis 1980 zuzüglich der allgemeinen Tariffreibeträge) einerseits und den vergleichbaren Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) andererseits entfallenden Steuer bis einen Monat nach der Bekanntgabe einer Entscheidung in den entsprechenden Klageverfahren aussetzte. Zur Begründung berief es sich im wesentlichen auf den Beschluß des FG Münster vom 1.Februar 1991 16 K 936/90 E (Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 1991, 253), mit dem dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die Vorschriften über den Grundfreibetrag für die Jahre 1978 bis 1984 sowie den allgemeinen Tariffreibetrag für die Jahre 1978 bis 1980 zur Prüfung vorgelegt worden sind.
Gegen die Aussetzung der Vollziehung, soweit sie auf Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit der Grundfreibeträge beruht, richten sich die --vom FG zugelassenen-- Beschwerden des FA. Es beruft sich auf den Beschluß des BFH vom 20.Juli 1990 III B 144/89 (BFHE 162, 542, BStBl II 1991, 104). Danach komme bei behaupteter Verfassungswidrigkeit eines Steuergesetzes eine Aussetzung der Vollziehung nur in Betracht, wenn ein gesondert festzustellendes berechtigtes Interesse des Steuerpflichtigen an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes bestehe. Dieses könne gegenüber dem öffentlichen Interesse an einer geordneten Haushaltsführung regelmäßig nicht anerkannt werden. Ein besonderes berechtigtes Interesse der Kläger müsse hier insbesondere wegen ihrer guten wirtschaftlichen Verhältnisse verneint werden.
Entscheidungsgründe
Der Senat hält es für zweckmäßig, die Beschwerdeverfahren zu gemeinsamer Entscheidung zu verbinden (§ 128 i.V.m. § 73 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
Die Beschwerden sind begründet.
Gemäß § 69 Abs.2 Sätze 1 und 2, Abs.3 Satz 1 FGO kann die Finanzbehörde oder auf Antrag das FG die Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsakts u.a. dann aussetzen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts bestehen. Ernstliche Zweifel in diesem Sinne bestehen, wenn bei einer überschlägigen Prüfung neben für die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts sprechenden Umständen gewichtige gegen die Rechtmäßigkeit sprechende Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung der Rechtsfragen oder Unklarheit in der Beurteilung der Tatfragen auslösen (vgl. Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 2.Aufl., § 69 Anm.88; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 12.Aufl., § 69 FGO, Anm.10; jeweils m.w.N.). Ebenso wie aber ernstliche Zweifel an der Richtigkeit von Auslegung und Anwendung eines Gesetzes die Aussetzung der Vollziehung rechtfertigen, gilt dies auch dann, wenn ernste verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Gültigkeit eines Gesetzes selbst erhoben werden können (Urteil des BVerfG vom 21.Februar 1961 1 BvR 314/60, BStBl I 1961, 63). In diesem Fall verlangt der BFH allerdings im Hinblick auf den Geltungsanspruch jedes formell verfassungsmäßig zustande gekommenen Gesetzes zusätzlich ein (besonderes) berechtigtes Interesse des Antragstellers an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes (BFH-Entscheidungen vom 6.November 1987 III B 101/86, BFHE 151, 428, 434, BStBl II 1988, 134; vom 2.August 1988 III B 12/88, BFHE 154, 123, 128; in BFHE 162, 542, 545, BStBl II 1991, 104). Dieses kann z.B. wegen eines überwiegenden öffentlichen Interesses, insbesondere dem einer geordneten öffentlichen Haushaltswirtschaft, an der Vollziehung der Bescheide zu verneinen sein. An diesen Grundsätzen hält der erkennende Senat fest.
Im vorliegenden Streitfall sind bereits ernste verfassungsrechtliche Bedenken zu verneinen. Denn die Höhe der Grundfreibeträge für die Jahre 1978 bis 1983 ist bei summarischer Prüfung für Fälle der hier vorliegenden Art verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Im übrigen wäre unter den hier gegebenen Umständen auch ein (besonderes) berechtigtes Interesse der Kläger an der Aussetzung der Vollziehung nicht gegeben.
In seinem Urteil vom 8.Juni 1990 III R 14-16/90 (BFHE 161, 109, BStBl II 1990, 969) hat der Senat ausgeführt, daß der für die Streitjahre 1986 bis 1988 geltende Grundfreibetrag verfassungsrechtlich jedenfalls dann nicht zu beanstanden ist, wenn bei einem zu versteuernden Einkommen von 72 576 DM eine Einkommensteuer von 16 246 DM zu zahlen ist. Im wesentlichen hat er seine Auffassung damit begründet, daß die Grundfreibeträge für die Jahre 1986 bis 1988 den entsprechenden Regelsätzen für die Sozialhilfe entsprächen und damit das steuerfrei zu belassende Existenzminimum ausreichend berücksichtigt sei.
Geht man von den Grundsätzen dieser Entscheidung aus, so sind auch im Streitfall ernste Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit der Höhe der Grundfreibeträge für die hier zu beurteilenden Streitjahre zu verneinen. Denn nach den Feststellungen des FG Münster in seinem Vorlagebeschluß in EFG 1991, 253, die insoweit auf den Zusammenstellungen im Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge in den Jahren 1978 bis 1983 beruhen und denen sich der Senat für das vorliegende Verfahren anschließt, beliefen sich die durchschnittlichen Regelsätze nach § 22 BSHG für Ehepaare (Haushaltsvorstand mit 100 v.H. und "sonstiger Haushaltsvorstand" mit 80 v.H.) auf:
1978: 6 288 DM 1981: 7 080 DM
1979: 6 420 DM 1982: 7 296 DM
1980: 6 672 DM 1983: 7 374 DM.
Der doppelte Grundfreibetrag, dem für die Streitjahre 1978 bis 1980 noch der allgemeine Tariffreibetrag hinzuzurechnen ist, lag in allen Streitjahren höher; er betrug:
1978 1979 1980 1981 1982 1983
---- ---- ---- ---- ---- ----
DM DM DM DM DM DM
doppelter
Grundfreibetrag
6 658 7 380 7 380 8 424 8 424 8 424
doppelter
Tariffreibetrag
1 020 1 020 1 020 --- --- ---
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insgesamt
(1 + 2) 7 678 8 400 8 400 8 424 8 424 8 424.
Seine Auffassung, daß das Existenzminimum allein durch die Regelsätze des BSHG ausreichend berücksichtigt werde, die dadurch nicht erfaßten Aufwendungen für Kleidung, Hausrat und Heizung sowie die laufenden Leistungen für die Unterkunft in diesem Zusammenhang also vernachlässigt werden könnten, hat der Senat im Urteil in BFHE 161, 109, 114 f., BStBl II 1990, 969 u.a. damit begründet, daß der Grundfreibetrag --anders als etwa der Kinderfreibetrag-- nicht isoliert von den übrigen Regelungen des Einkommensteuergesetzes (EStG) betrachtet werden dürfe, der Gesetzgeber auch nicht verpflichtet sei, das steuerliche Existenzminimum auf Bedarfstatbestände auszudehnen, die je nach den Umständen des Einzelfalles sehr unterschiedlich sein könnten und für die bereits sozialrechtliche Entlastungen vorgesehen seien. In solchen Fällen sei der Minderung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit nach der Rechtsprechung des BVerfG vielmehr bei der Festsetzung der Sozialleistungen Rechnung zu tragen. Ferner hat der Senat darauf hingewiesen, daß bereits bei der Ermittlung der Steuerbemessungsgrundlage Abzugsbeträge vorgesehen sind, die als disponibles Einkommen eigentlich zur Steuerzahlung zur Verfügung stehen müßten. Zu diesen Ermäßigungen gehörten etwa die Freibeträge nach § 13 Abs.3 EStG sowie der Weihnachts- und Arbeitnehmerfreibetrag, die Sonderausgaben und die --einen Sonderbedarf deckenden-- außergewöhnlichen Belastungen. Der Senat hat in diesem Zusammenhang weiter darauf hingewiesen, daß bestimmte Einkommensteile, wie etwa private Veräußerungsgewinne, und eine Vielzahl von Transferleistungen von der Einkommensteuer befreit sind, andererseits bestimmte Bedarfstatbestände, wie z.B. das private Wohnen, steuerlich gefördert werden.
An diesen Ausführungen hält der Senat für Fälle der auch hier vorliegenden Art, in denen der Steuerpflichtige über ein ausreichend hohes Einkommen verfügt, so daß ihm unabhängig von der Höhe des Grundfreibetrages und unter Berücksichtigung der abzuführenden Steuern ausreichend Mittel zur Bestreitung seines Lebensunterhalts verbleiben, fest. Gerade die Umstände des Streitfalls zeigen, daß es der Lebenswirklichkeit nicht entspricht, das steuerliche Existenzminimum stets als nur durch den Grundfreibetrag gewährleistet anzusehen. Denn die Kläger können aufgrund ihrer sehr guten Einkommensverhältnisse in besonderem Maße Gestaltungsmöglichkeiten, die ihnen das Einkommensteuerrecht bietet, nutzen und auf diese Weise Einkommensteile, die ebenfalls der privaten Lebensführung dienen, aus dem zu versteuernden Einkommen herausnehmen.
Die vorliegende Entscheidung steht deshalb auch nicht im Widerspruch zum Beschluß des erkennenden Senats vom 25.Juli 1991 III B 555/90 (BFHE 164, 570). Dort ist der Senat zu dem Ergebnis gelangt, daß die Erwägungen aus dem Urteil in BFHE 161, 109, BStBl II 1990, 969 dann nicht gelten, wenn das zu versteuernde Einkommen (im dortigen Streitfall 8 717 DM) so niedrig ist, daß dem Steuerpflichtigen nach Entrichtung der Einkommensteuer (dort 867 DM) nur ein Betrag verbleibt, der das sozialhilferechtlich garantierte Jahresexistenzminimum unterschreitet. Letzteres hat der Senat bei den dort gegebenen Verhältnissen im Anschluß an Lang (Reformentwurf zu Grundvorschriften des Einkommensteuergesetzes in: Münsteraner Symposium, Bd.II 1985, 71) nach den Regelsätzen der Sozialhilfe zuzüglich eines durchschnittlichen Kleideraufwands, durchschnittlicher Wohnungs- und Heizungskosten sowie durchschnittlicher Aufwendungen für Krankenkasse und andere Vorsorgeaufwendungen bestimmt. Für diesen Fall hat der Senat in dem vorerwähnten Beschluß auch ein berechtigtes Interesse an der Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes bejaht, weil der Steuerpflichtige auch nach einer möglichen Tarifänderung als Folge einer die Verfassungswidrigkeit des Grundfreibetrages feststellenden Entscheidung des BVerfG stets von der Einkommensteuer freigestellt bleiben müsse, Fälle dieser Art andererseits aber nicht die Regel seien, so daß auch das öffentliche Interesse an einer geordneten Haushaltswirtschaft zurücktreten müsse.
Alle diese Gesichtspunkte spielen in dem hier zu beurteilenden Streitfall keine Rolle. Hier ist deshalb bei überschlägiger Prüfung die Verfassungsmäßigkeit der Grundfreibeträge zu bejahen. Andererseits wäre, selbst bei Annahme ernster Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit der Höhe der Grundfreibeträge, den Klägern wegen ihrer guten Einkommensverhältnisse das (besondere) berechtigte Interesse an einer Aussetzung der Vollziehung im Hinblick auf höherwertige Interessen, insbesondere das Interesse des Staates an geordneter Haushaltswirtschaft, abzusprechen.
Danach sind die vom FG im Hinblick auf seine Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit der Grundfreibeträge vorgenommenen Teilaussetzungen aufzuheben.
Fundstellen
Haufe-Index 64010 |
BStBl II 1992, 91 |
BFHE 165, 415 |
BFHE 1992, 415 |
BB 1992, 49-50 (LT) |
DB 1992, 116-118 (LT) |
DStR 1992, 25 (KT) |
HFR 1992, 129 (LT) |
StE 1991, 438 (K) |