Entscheidungsstichwort (Thema)
Unwirksamkeit eines Bescheides wegen der Aufgabe des Bekanntgabewillens
Leitsatz (amtlich)
Die Aufgabe des zunächst vorhandenen Bekanntgabewillens ist bei einem dem Betroffenen gleichwohl bekanntgegebenen Steuerbescheid nur beachtlich, wenn die Rechtzeitigkeit der Aufgabe des Bekanntgabewillens in den Akten klar und eindeutig dokumentiert ist.
Orientierungssatz
Eine solche Dokumentation liegt nicht vor, wenn sie nicht aus sich heraus verständlich ist, sondern noch einer zusätzlichen Vernehmung von Amtspersonen als Zeugen bedarf.
Normenkette
AO 1977 § 124 Abs. 1-2
Tatbestand
Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) wurden im Streitjahr 1990 als Ehegatten zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Der Kläger, ein Industriekaufmann, war seit 1. Juli 1989 arbeitslos und bezog Arbeitslosengeld. In einer Zeitungsannonce wurde für einen aktiv tätigen Mitgesellschafter eine Kapitalanlage in Höhe von 50 000 DM mit einer jährlichen Rendite von ca.20 bis 30 v.H. angeboten sowie bei Mitarbeit ein Jahreseinkommen von ca. 90 000 DM in Aussicht gestellt. Mit notariellem Vertrag vom 12. Juni 1990 erwarb der Kläger einen GmbH-Anteil für 50 000 DM, wovon 30 000 DM bei der Beurkundung bereits bezahlt waren. Die restlichen 20 000 DM sollten bis Ende des Jahres entrichtet werden. Im August 1990 ging die GmbH in Konkurs. Der Kläger hat gegen den Geschäftsführer der GmbH Strafantrag wegen Betrugs gestellt.
Der Kläger machte Aufwendungen im Zusammenhang mit dem Erwerb des Anteils in Höhe von 31 432 DM als vorab entstandene Werbungskosten aus nichtselbständiger Arbeit geltend. Diese erkannte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) im Einkommensteuerbescheid 1990 vom 28. August 1991 nicht an. Mit fristgerechtem Einspruch trugen die Kläger vor, der Ehemann habe nach mehreren erfolglosen Bewerbungen aufgrund seiner Langzeitarbeitslosigkeit und seines Alters (52 Jahre) gehofft, bei der GmbH durch die Kapitalanlage eine Beschäftigung zu finden. Das beabsichtigte Arbeitsverhältnis sei der ausschließliche Grund für den Erwerb des GmbH-Anteils gewesen, die Kapitalrendite sei völlig nebensächlich gewesen. Im Änderungsbescheid vom 9. Januar 1992 wurde die Einkommensteuer auf 0 DM festgesetzt. Mit Schreiben vom 15. Januar 1992 teilte das FA den Klägern mit, daß der Bescheid vom 9. Januar 1992 versehentlich übersandt worden sei, da bereits vor Bekanntgabe eine Stornierung auf dem Einkommensteuerkonto erfolgt sei.
Mit Entscheidung vom 23. Januar 1992 wies das FA den Einspruch als unbegründet zurück.
Die Klage hatte keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) sah den Einkommensteuerbescheid vom 9. Januar 1992 nicht als wirksam bekanntgegeben an, da er nicht mit Bekanntgabewillen eines für den Erlaß von Verwaltungsakten befugten Bediensteten ergangen sei. Die Aufgabe des Bekanntgabewillens, die klar und eindeutig dokumentiert werden müsse, liege im Streitfall in der Stornierung auf dem Einkommensteuerkonto vor Absendung des Steuerbescheides und vor dem Schreiben vom 15. Januar 1992, das zur Beseitigung des Rechtsscheins versandt worden sei. Ohne diese Mitteilung hätte aufgrund der von den Klägern nicht nachprüfbaren Stornierung keine eindeutige Dokumentation vorgelegen.
Die streitigen Aufwendungen seien --was im einzelnen ausgeführt wird-- keine vorab entstandenen Werbungskosten.
Zur Begründung der Revision tragen die Kläger vor, das FA habe weder hinsichtlich des Änderungsbescheides vom 9. Januar 1992 seinen Bekanntgabewillen rechtzeitig aufgegeben noch sei ihm darin zu folgen, daß die Aufwendungen zum Erwerb des Anteils maßgeblich auf anderen Gründen beruhten, als dem beabsichtigten Abschluß eines Arbeitsverhältnisses und der damit verfolgten Einnahmen.
Die Kläger beantragen sinngemäß, die Einspruchsentscheidung ersatzlos aufzuheben.
Das FA beantragt sinngemäß, die Revision zurückzuweisen.
Das Begehren der Kläger geht dahin, wegen der Wirksamkeit des Bescheides vom 9. Januar 1992 die in der Einspruchsentscheidung ausgesprochene Bestätigung des ursprünglichen Bescheides vom 28. August 1991 aufzuheben. Dabei bezieht sich ihr Antrag richtigerweise nur auf die Einkommensteuer, da die zusätzliche Erwähnung der Kirchensteuer angesichts des vorhergehenden Verfahrens auf einem offensichtlichen Versehen beruht.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet, weil durch die wirksame Bekanntgabe des Bescheides vom 9. Januar 1992 dem Einspruchsbegehren entsprochen worden ist und eine Bestätigung des geänderten Bescheides vom 28. August 1991 verfahrensrechtlich nicht mehr möglich war.
1. Wie das FG zutreffend dargelegt hat, zählt zu den Wirksamkeitsvoraussetzungen eines Steuerbescheides, daß er vom Bekanntgabewillen der Behörde getragen ist. Dabei kann der Nachweis, daß ein dem Steuerpflichtigen in der äußeren Form und mit dem Inhalt eines Steuerbescheides zugegangenes Schriftstück von Anfang an nicht in der Absicht geschaffen wurde, einen Verwaltungsakt zu erstellen und bekanntzugeben, ohne erhöhte Beweisanforderungen geführt werden (Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 28. September 1984 III R 58/83, BFHE 142, 204, BStBl II 1985, 42). Demgegenüber hat die Rechtsprechung bei einem Bescheid, der mit Bekanntgabewillen so auf den Weg gebracht wurde, daß er nach dem üblichen Verwaltungsablauf auch versendet werden sollte, für den Fall der Aufgabe des ursprünglichen Bekanntgabewillens aus Gründen der Rechtssicherheit gefordert, daß sich die Aufgabe in der ausdrücklichen Aufhebung des Verwaltungsaktes niederschlägt und dies klar und eindeutig, z.B. durch einen Vermerk in den Akten, dokumentiert wird (BFH-Urteil vom 24. November 1988 V R 123/83, BFHE 155, 466, BStBl II 1989, 344 unter Fortführung des Senatsurteils vom 27. Juni 1986 VI R 23/83, BFHE 147, 205, BStBl II 1986, 832). Hieran hält der Senat fest. Die dort offengelassene Frage, ob bei versehentlicher Versendung des ursprünglich beabsichtigten Bescheides dieser nur dann als unwirksam anzusehen ist, wenn die Aufgabe des Bekanntgabewillens erfolgt, bevor er den Herrschaftsbereich der Behörde verlassen hat oder ob der Bekanntgabewille wirksam bis zum Eingang beim Steuerpflichtigen aufgegeben werden kann, beantwortet der Senat zugunsten der zuerst genannten Alternative. Dabei kann unbeantwortet bleiben, welche Bedeutung einem vor Zugang oder gleichzeitig mit diesem erfolgten Widerruf (vgl. § 124 Abs.2 der Abgabenordnung --AO 1977--) durch Telegramm o.ä. beizumessen ist. Dafür, daß der Bekanntgabewille vor Verlassen des Herrschaftsbereiches der Behörde aufgegeben worden sein muß, spricht zum einen, daß Rechtsfolgen bereits an den Zeitpunkt anknüpfen, zu dem der Steuerbescheid den Bereich der für die Steuerfestsetzung zuständigen Finanzbehörde verlassen hat (§ 169 Abs.1 Satz 3 Nr.1 AO 1977; vgl. dazu BFH-Urteile vom 31. Oktober 1989 VIII R 60/88, BFHE 160, 7, BStBl II 1990, 518, und vom 16. Mai 1990 X R 147/87, BFHE 161, 368, BStBl II 1990, 942); zum anderen sprechen Gründe der Praktikabilität und der Rechtssicherheit dafür. Denn damit wird ein für alle Bekanntgabearten gleicher --und deshalb leichter feststellbarer-- Zeitpunkt als maßgebend festgelegt. Dieses Ergebnis führt auch zu einem sachgerechten Ausgleich zwischen dem Interesse des Steuerpflichtigen, auf den Inhalt einer erhaltenen Urkunde vertrauen zu dürfen, und dem Interesse der Behörde, an einem gegen ihren Willen begebenen Schriftstück nicht festgehalten zu werden. Es erscheint nämlich sachgerecht, der Behörde, die entsprechende organisatorische Vorkehrungen treffen kann, einen Meinungswechsel grundsätzlich nur zuzubilligen, solange der Bescheid den ihrer Organisationsgewalt unterliegenden Bereich nicht verlassen hat.
2. Im Streitfall ist der unter dem 9. Januar 1992 versandte Bescheid --was zwischen den Beteiligten unstreitig ist-- zunächst mit Bekanntgabewillen verwaltungsintern auf den Weg gebracht worden. Ausweislich der Akten (vgl. hierzu BFH-Urteil vom 10. Mai 1968 VI R 7/66, BFHE 92, 333, BStBl II 1968, 589) wurde im Verlaufe des Einspruchsverfahrens nach vorangegangener Vorsprache des Klägers an Amtsstelle und Erteilung weiterer Informationen der betreffende Bescheid am 18. Dezember 1991 zur Abhilfe des Einspruchs verfügt. Er ist am 9. Januar 1992 zur Post gegeben worden und danach den Klägern zugegangen.
Die erforderliche klare und eindeutige Dokumentation der Aufgabe des Bekanntgabewillens ist den Akten nicht zu entnehmen. Dem Schreiben vom 15. Januar 1992 und dem Aktenvermerk vom 14. Januar 1992 kommen keine Bedeutung zu, weil sie erst nach Bekanntgabe des Bescheides vom 9. Januar 1992 verfaßt worden sind und im übrigen auch keine Einzelheiten zum zeitlichen und organisatorischen Ablauf erkennen lassen. Letzteres gilt auch für die Stornoanordnung vom 9. Januar 1992. Sollte in ihr zum Ausdruck gekommen sein, daß ein zur Steuerfestsetzung berufener Amtswalter des FA an der Bekanntgabe des Inhalts des Bescheides vom 9. Januar 1992 nicht mehr festhalten wollte, ist dem Vermerk jedenfalls nicht zu entnehmen, daß dies vor Versendung des hier streitigen Bescheides geschehen ist. Eine Zurückverweisung der Sache zur Klärung offengebliebener Zweifelsfragen kommt nicht in Betracht, da eine Dokumentation, die nicht aus sich heraus verständlich ist, sondern noch einer zusätzlichen Vernehmung von Amtspersonen als Zeugen bedarf, nicht klar und eindeutig ist.
Fundstellen
Haufe-Index 66131 |
BFH/NV 1996, 360 |
BStBl II 1996, 627 |
BFHE 180, 538 |
BFHE 1997, 538 |
BB 1996, 2396 |
BB 1996, 2396-2397 (LT) |
DB 1996, 2110-2111 (ST) |
DStR 1996, 1564-1565 (KT) |
DStZ 1997, 166 (K) |
HFR 1996, 793-794 (L) |