Entscheidungsstichwort (Thema)
Kindergeld für arbeitslose behinderte Kinder: erhebliche Mitursächlichkeit der Behinderung des Kindes für seine mangelnde Fähigkeit zum Selbstunterhalt
Leitsatz (amtlich)
1. Eine Mitursächlichkeit der Behinderung des Kindes für seine mangelnde Fähigkeit zum Selbstunterhalt genügt für den Kindergeldanspruch nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG. Aus dem Wortlaut der Vorschrift ergibt sich aber, dass die Mitursächlichkeit erheblich sein muss.
2. Die Entscheidung, ob eine erhebliche Mitursächlichkeit vorliegt, hat das FG im Rahmen einer Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalles zu treffen, die vom BFH nur eingeschränkt überprüfbar ist.
Normenkette
EStG § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 3; FGO § 118 Abs. 2; SGB II § 7 Abs. 1, § 8 Abs. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Die 1982 geborene behinderte Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) begehrt die Festsetzung von Kindergeld zugunsten ihrer Mutter, die der Senat im Revisionsverfahren gemäß § 60 Abs. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zum Verfahren beigeladen hat.
Die Klägerin ist behindert (Grad der Behinderung --GdB-- 60, Merkmal RF). Nach Beendigung der Sonderschule besuchte sie 1999/2000 die Vorklasse (Textil/Hauswirtschaft) und 2000/2001 einen Qualifikationslehrgang (Praktikum Floristin) am Kolleg für Hörgeschädigte, um arbeitsmarktorientierte Grundfertigkeiten zu erlangen. Ab März 2002 war die Klägerin mit dem Berufswunsch Floristenhelferin/Verkäuferin im Lagerbereich arbeitslos gemeldet. Im Jahr 2004 nahm sie an einer Berufsvorbereitungsmaßnahme für Behinderte, zunächst in der Grundstufe und ab 2005 in der Förderstufe teil. Nach Beendigung des Lehrganges meldete sich die Klägerin erneut arbeitslos und erhielt Arbeitslosengeld II. Seit August 2005 wird die Klägerin bei der Berufsberatung nicht mehr als Bewerberin für eine berufliche Ausbildungsstelle geführt.
Das Kindergeld für die Klägerin wurde zugunsten der Beigeladenen festgesetzt und im Wege der Abzweigung bis einschließlich August 2005 unmittelbar an die Klägerin gezahlt, weil die Beigeladene keinen Unterhalt an die Klägerin leistete.
Am 19. Juli/14. August 2005 beantragte die Beigeladene erneut Kindergeld unter gleichzeitiger Abtretung an die Klägerin. Die Klägerin stellte am 18. August 2005 einen Antrag auf Auszahlung des Kindergeldes und teilte mit, sie sei Hartz IV-Empfängerin. Sie bitte um einen begründeten Ablehnungsbescheid und werde in jedem Falle mit Hilfe des Sozialamtes Einspruch einlegen.
Die Beklagte und Revisionsklägerin (die Familienkasse) lehnte den Antrag der Beigeladenen auf Kindergeld mit Bescheid vom 2. Februar 2006 ab. Die Familienkasse führte zur Begründung aus, die Klägerin sei weder als ausbildungsplatzsuchend gemeldet noch könne sie als behindertes Kind berücksichtigt werden, weil die Behinderung nicht ursächlich dafür sei, dass die Klägerin ihren Lebensunterhalt nicht selbst bestreiten könne. Einen Abdruck der Entscheidung übersandte die Familienkasse mit Schreiben vom 2. Februar 2006 an die Klägerin.
Die Klägerin legte am 13. Februar 2006 Einspruch ein und machte geltend: Nach einem psychologischen Test des Arbeitsamtes sei ihr mitgeteilt worden, ihr schulisches Grundwissen reiche nicht aus, um eine Ausbildung absolvieren zu können. Nach dem Test sei sie aufgrund einer Maßnahme des Arbeitsamtes in einer Werkstätte untergebracht worden und habe von Hartz IV gelebt.
Die Familienkasse wies mit Einspruchsentscheidung vom 27. Februar 2006 den Einspruch der Klägerin als unbegründet zurück: Es lasse sich nicht feststellen, dass die Klägerin aufgrund ihrer Behinderung nicht in der Lage sei, selbst für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Sie habe sich mit einem mindestens dreistündigen täglichen Leistungsvermögen dem allgemeinen Arbeitsmarkt bei der Arbeitsagentur zur Verfügung gestellt und beziehe laufend Geldleistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Es lägen eher "arbeitsmarktliche" Gründe vor, die aufgrund der Schwerhörigkeit die Ausübung einer Beschäftigung verhinderten. Die Aufnahme eines Ausbildungsverhältnisses scheitere an mangelndem schulischem Grundwissen.
Das Finanzgericht (FG) sah die Klage als zulässig an. Es verpflichtete die Familienkasse unter Änderung des Bescheides vom 2. Februar 2006 in der Fassung der Einspruchsentscheidung vom 27. Februar 2006, zugunsten der Beigeladenen ab September 2005 Kindergeld für die Klägerin festzusetzen.
Es führte aus: Die Behinderung der Klägerin sei ursächlich für ihre Unfähigkeit, sich selbst zu unterhalten. Nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 des für den streitigen Zeitraum geltenden Einkommensteuergesetzes (EStG) 2002 müsse die Behinderung nicht alleinige Ursache dafür sein, dass das Kind nicht selbst für seinen Unterhalt sorgen könne. Eine Mitursächlichkeit reiche aus. Im Streitfall sei nach den Gesamtumständen die Behinderung der Klägerin in erheblichem Umfang mitursächlich für die fehlende Möglichkeit zum Selbstunterhalt. Zwar sei die Klägerin arbeitslos gemeldet gewesen und habe Arbeitslosengeld II bezogen. Bis heute habe ihr jedoch keine Arbeitsstelle auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vermittelt werden können. Auch nach dem Gutachten der vom Gericht beauftragten Sachverständigen vom 4. Mai 2007 und den Feststellungen des Gutachters des Arbeitsamtes vom 8. Januar 2004 könne nicht angenommen werden, dass die Erwerbslosigkeit nur auf den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes beruhe. Zwar habe die Sachverständige ebenso wie der Gutachter des Arbeitsamtes festgestellt, dass die Klägerin trotz einer Einschränkung ihrer beruflichen Leistungsfähigkeit in der Lage sei, eine geistig einfache angelernte Tätigkeit "vollschichtig" auszuüben. Die Leistungseinschränkungen aufgrund ihrer Lernbehinderung wegen einer frühkindlichen Hirnschädigung und ihrer Schwerhörigkeit führten aber zu einer erheblichen Einschränkung ihrer Vermittlungschancen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt.
Mit ihrer Revision rügt die Familienkasse die Verletzung des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG 2002. Entgegen der Rechtsauffassung des FG reiche für die Feststellung, dass sich das Kind nicht selbst unterhalten könne, eine Mitursächlichkeit nicht aus. Andernfalls wäre eine Behinderung praktisch immer als (mit-)kausal für die Unfähigkeit zum Selbstunterhalt anzusehen. Nach dem Gesetzeswortlaut müsse das Kind "wegen" der Behinderung außerstande sein, sich selbst zu unterhalten. Hieraus folge, dass die Behinderung die alleinige Ursache sein müsse. Da dies in der Praxis selten feststellbar sein dürfte, müsse die Behinderung zumindest ganz überwiegend für die Unfähigkeit zum Selbstunterhalt verantwortlich sein. Auf keinen Fall dürfe jedoch, wie das FG annehme, jede irgendwie geartete Mitursächlichkeit, also auch ein beliebig kleiner Ursachenbeitrag, als ausreichend für die Feststellung der Kausalität angesehen werden.
Die Familienkasse beantragt, das Urteil der Vorinstanz aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 FGO).
1. Das FG hat zutreffend entschieden, dass gegenüber der Beigeladenen Kindergeld für die Klägerin ab September 2005 festzusetzen ist.
Gemäß den §§ 62 Abs. 1, 63 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG 2002 besteht für ein Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, Anspruch auf Kindergeld, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten und die Behinderung vor dem 27. Lebensjahr eingetreten ist.
a) Das Tatbestandsmerkmal "außerstande ist, sich selbst zu unterhalten" ist im Gesetz nicht näher umschrieben. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) ist ein behindertes Kind dann außerstande, sich selbst zu unterhalten, wenn es seinen Lebensunterhalt nicht selbst bestreiten kann. Ein Kind ist dann imstande, sich selbst zu unterhalten, wenn es über eine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit verfügt, die zur Bestreitung seines gesamten notwendigen Lebensunterhalts ausreicht (BFH-Urteile vom 15. Oktober 1999 VI R 183/97, BFHE 189, 442, BStBl II 2000, 72, und VI R 40/98, BFHE 189, 449, BStBl II 2000, 75). Der gesamte existenzielle Lebensbedarf des behinderten Kindes setzt sich dabei typischerweise aus dem allgemeinen Lebensbedarf (Grundbedarf) und dem individuellen behinderungsbedingten Mehrbedarf zusammen. Für den Streitzeitraum beginnend ab September 2005 ist der Grundbedarf mit 7 680 € zu bemessen (vgl. BFH-Urteil in BFHE 189, 442, BStBl II 2000, 72). Hinzu kommt ein individueller behinderungsbedingter Mehraufwand, den gesunde Kinder nicht haben. Erbringt der Steuerpflichtige keinen Einzelnachweis, kann der jeweils maßgebliche Behinderten-Pauschbetrag (§ 33b Abs. 1 bis 3 EStG 2002) als Anhalt für den betreffenden Mehrbedarf dienen (z.B. BFH-Urteile vom 19. August 2002 VIII R 17/02, BFHE 200, 219, BStBl II 2003, 88, und VIII R 51/01, BFHE 200, 212, BStBl II 2003, 91).
b) Ein behindertes Kind kann sowohl wegen der Behinderung als auch wegen der allgemeinen ungünstigen Situation auf dem Arbeitsmarkt oder wegen anderer Umstände (z.B. mangelnder Mitwirkung bei der Arbeitsvermittlung, Ablehnung von Stellenangeboten) arbeitslos und damit außerstande sein, sich selbst zu unterhalten. Entsprechend dem eindeutigen Wortlaut des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG 2002 führt eine Behinderung aber nur dann zu einer Berücksichtigung beim Kindergeld, wenn das Kind nach den Gesamtumständen des Einzelfalles wegen der Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten (Ursächlichkeit); dem Kind muss es daher objektiv unmöglich sein, seinen (gesamten) Lebensunterhalt durch eigene Erwerbstätigkeit zu bestreiten (vgl. BFH-Urteil in BFHE 189, 449, BStBl II 2000, 75). Ist folglich ein Kind trotz seiner (ggf. erheblichen) Behinderung etwa aufgrund hoher Einkünfte oder Bezüge in der Lage, selbst für seinen Lebensunterhalt zu sorgen, kommt der Behinderung keine Bedeutung zu.
Entgegen der Auffassung der Familienkasse ist insoweit keine abstrakte Betrachtungsweise zulässig; vielmehr fordert der Gesetzgeber eine konkrete Bewertung der jeweiligen Situation des behinderten Kindes nach den Gesamtumständen des Einzelfalles (BFH-Beschluss vom 14. Dezember 2001 VI B 178/01, BFHE 197, 472, BStBl II 2002, 486; R 32.9 Abs. 2 Satz 1 der Einkommensteuer-Richtlinien --EStR-- 2005).
Nach ständiger Rechtsprechung des BFH kann die Ursächlichkeit der Behinderung entsprechend den Verwaltungsanweisungen grundsätzlich angenommen werden, wenn im Schwerbehindertenausweis das Merkmal "H" (hilflos) eingetragen ist oder der GdB 50 oder mehr beträgt und besondere Umstände hinzutreten, aufgrund derer eine Erwerbstätigkeit unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes ausgeschlossen erscheint (BFH-Urteil vom 26. Juli 2001 VI R 56/98, BFHE 196, 161, BStBl II 2001, 832; BFH-Beschluss in BFHE 197, 472, BStBl II 2002, 486; H 32.9 erster Anstrich EStR 2005, Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs nach dem X. Abschnitt des Einkommensteuergesetzes --DA-FamEStG-- 63.3.6.3.1 Abs. 2 Satz 1, BStBl I 2004, 743, 771). Es handelt sich bei diesen Regelungen um eine im Interesse der Rechtsanwendungsgleichheit vorgenommene Konkretisierung des Grundsatzes, dass die Frage, ob die Behinderung ursächlich für das Außerstandesein des Kindes zum Selbstunterhalt ist, nach den Gesamtumständen des Einzelfalles zu beurteilen ist (BFH-Urteil vom 26. August 2003 VIII R 58/99, BFH/NV 2004, 326).
Der Senat folgt den Verwaltungsanweisungen auch insoweit, als die Behinderung für die Unfähigkeit des Kindes zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit grundsätzlich nicht ursächlich ist, wenn der GdB weniger als 50 beträgt und keine besonderen Umstände dafür ersichtlich sind, dass auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt keine Erwerbstätigkeit ausgeübt werden kann (s. DA-FamEStG 63.3.6.3.1 Abs. 1 Satz 1). Die in den Verwaltungsanweisungen enthaltenen (pauschalen) Vermutungen des Kausalzusammenhangs sind in beiden Fallgruppen im Einzelfall widerlegbar.
c) Das FG hat zutreffend entschieden, dass nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG 2002 die Behinderung nicht die alleinige Ursache dafür sein muss, dass das Kind außerstande ist, sich selbst zu unterhalten (ebenso Sächsisches FG, Urteile vom 26. Juni 2006 1 K 1565/04 (Kg), Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 2007, 50, und vom 17. August 2004 3 K 2367/03 (Kg), EFG 2005, 391; FG Düsseldorf, Urteil vom 8. Februar 2007 14 K 5102/05 Kg, EFG 2007, 1339 --nur Leitsatz--). Würde man eine ausschließliche Ursächlichkeit der Behinderung für die fehlende eigene Fähigkeit des Kindes zur Unterhaltssicherung verlangen, so würde man die Kindergeldberechtigung arbeitsloser behinderter Kinder insbesondere in Zeiten erhöhter Arbeitslosigkeit leerlaufen lassen; denn in der Regel ist die Arbeitsmarktsituation zumindest mitursächlich für den unzureichenden beruflichen Erfolg des behinderten Kindes (Sächsisches FG, Urteil in EFG 2005, 391). Andererseits ergibt sich aus dem Wortlaut des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG 2002, dass nicht jede einfache Mitursächlichkeit ausreicht; vielmehr folgt aus dem Tatbestandsmerkmal " … wegen … Behinderung außerstande ist", dass die Mitursächlichkeit der Behinderung erheblich sein muss.
Der fehlende Nachweis der Behinderung und der Unfähigkeit zum Selbstunterhalt geht im Übrigen nach den Regeln der objektiven Beweislast (Feststellungslast) zu Lasten des Kindergeldberechtigten.
2. Die Entscheidung, ob eine Behinderung für die mangelnde Fähigkeit des behinderten Kindes zum Selbstunterhalt in erheblichem Umfang mitursächlich ist, hat das FG unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles zu entscheiden. Vom BFH ist die Entscheidung des FG nur eingeschränkt überprüfbar. Ist die tatsächliche Würdigung des FG verfahrensrechtlich einwandfrei zustande gekommen und verstößt sie auch nicht gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze, ist sie für den BFH als Revisionsgericht nach § 118 Abs. 2 FGO bindend, selbst wenn die Wertung des FG nicht zwingend, sondern lediglich möglich ist (z.B. BFH-Beschluss vom 10. Februar 2005 VI B 113/04, BFHE 209, 211, BStBl II 2005, 488).
a) Ein Indiz für die Fähigkeit des behinderten Kindes zum Selbstunterhalt kann zwar die Feststellung in ärztlichen Gutachten --z.B. von der Reha-SB-Stelle der Agentur für Arbeit oder eines vom Gericht beauftragten ärztlichen Sachverständigen-- sein, das Kind sei nach Art und Umfang seiner Behinderung in der Lage, eine arbeitslosenversicherungspflichtige, mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des für ihn in Betracht kommenden Arbeitsmarktes auszuüben (s. DA-FamEStG 63.3.6.3.1 Abs. 4). Selbst wenn nach den Gutachten eine "vollschichtige Tätigkeit" für möglich gehalten wird, ist die theoretische Möglichkeit, das behinderte Kind am allgemeinen Arbeitsmarkt zu vermitteln, aber allein nicht geeignet, die (Mit-)Ursächlichkeit der Behinderung auszuschließen. Entscheidend kann nur die konkrete Bewertung der jeweiligen Situation des behinderten Kindes sein.
b) Auch der Bezug von Arbeitslosengeld II kann allenfalls ein Indiz für die Fähigkeit des Kindes zum Selbstunterhalt sein. Der Bezug von Arbeitslosengeld II setzt u.a. voraus, dass der Arbeitslose nach § 7 Abs. 1 Nr. 2 SGB II erwerbsfähig ist, d.h. unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig sein kann (vgl. § 8 Abs. 1 SGB II). Jedoch muss sich aus dem Gesamtbild durch Hinzutreten weiterer Umstände eine konkrete Erwerbsfähigkeit des behinderten Kindes ergeben.
c) Dagegen kommt dem GdB eine wichtige indizielle Bedeutung für die Prüfung der Ursächlichkeit der Behinderung für die mangelnde Fähigkeit zum Selbstunterhalt zu (vgl. Sächsisches FG, Urteil in EFG 2007, 50). Je höher der GdB ist, desto stärker wird die Vermutung, dass die Behinderung der erhebliche Grund für die fehlende Erwerbstätigkeit ist. Dieser Erkenntnis liegt die zutreffende Annahme zugrunde, dass eine Beschäftigung schwerbehinderter Kinder unter den normalen Bedingungen des Arbeitsmarktes regelmäßig nur unter erschwerten Bedingungen möglich ist (BFH-Beschluss in BFHE 197, 472, BStBl II 2002, 486). Die Rechtsprechung hat demgemäß bei einem GdB von 100 und dem Merkmal H in der Regel eine Kausalität angenommen, auch wenn eine (Teil-)Erwerbstätigkeit theoretisch möglich gewesen sein sollte (vgl. BFH-Urteile vom 28. Januar 2004 VIII R 10/03, BFH/NV 2004, 784, und in BFH/NV 2004, 326). Dagegen spricht ein GdB unter 50 eher gegen eine Kausalität der Behinderung.
d) Eine --nicht behinderungsspezifische-- Berufsausbildung kann als Indiz für eine Vermittelbarkeit des behinderten Kindes auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sprechen (vgl. auch FG Baden-Württemberg, Urteil vom 14. Oktober 2004 3 K 87/00, EFG 2005, 285). Andererseits gilt auch hier, dass noch weitere Umstände hinzukommen müssen, bis eine Teilnahme am Erwerbsleben als möglich angesehen werden kann. Behinderungsspezifische Ausbildungen und Praktika --wie im Streitfall-- sprechen eher gegen eine Vermittelbarkeit am allgemeinen Arbeitsmarkt, da sie möglicherweise den Schluss auf nur bedingte Einsatzmöglichkeiten am Arbeitsmarkt zulassen.
e) Steht das behinderte Kind der Arbeitsvermittlung der Agentur für Arbeit zur Verfügung und kann die Agentur für Arbeit in einem mittelfristigen Zeitraum keine Stellenangebote benennen, wird dies in der Regel gegen die Vermittelbarkeit des behinderten Kindes und damit für eine Ursächlichkeit der Behinderung für die mangelnde Fähigkeit zum Selbstunterhalt sprechen (vgl. Sächsisches FG, Urteil in EFG 2007, 50; FG Düsseldorf, Urteil in EFG 2007, 1339). Gleiches gilt, wenn das behinderte Kind sich mittelfristig mehrfach erfolglos beworben hat (a.A. FG Baden-Württemberg, Urteil vom 12. Juli 2007 1 K 316/04, Steuer-Eildienst 2008, 646 --nur Leitsatz--). Insbesondere erschwert ein ungünstiger Arbeitsmarkt die Vermittelbarkeit des behinderten Kindes, da Einsparungsmaßnahmen der Arbeitgeber am ehesten bei "einfachen" Tätigkeiten vorgenommen werden und durch automatisierte Handlungsabläufe ersetzt werden.
3. Das FG ist im Ergebnis von diesen Grundsätzen ausgegangen. Es hat eine erhebliche Mitursächlichkeit der Behinderung im Streitfall als gegeben angesehen und nicht wie die Familienkasse meint, jede irgendwie geartete Mitursächlichkeit ausreichen lassen. Die Gesamtwürdigung des FG, die Behinderung der Klägerin sei erheblich mitursächlich für ihre mangelnde Fähigkeit zum Selbstunterhalt, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Die Klägerin ist seit ihrer Geburt behindert und hat ab 2001 einen GdB von 60. Die Klägerin bezieht lediglich Arbeitslosengeld II und hatte nur zeitweise einen 1-Euro-Job. Ihr konnte mittelfristig keine Arbeitsstelle von der Arbeitsvermittlung der Agentur für Arbeit vermittelt werden. Die von der Klägerin absolvierten berufsbildenden Maßnahmen für Hörgeschädigte belegen, dass sie sich ständig intensiv um Fortbildung bemüht hat, um eine Ausbildungsstelle oder zumindest eine Arbeitsstelle zu erhalten. Nach den Ausführungen des FG führten die Leistungseinschränkungen der Klägerin aufgrund ihrer Lernbehinderung wegen der frühkindlichen Hirnschädigung und ihrer Schwerhörigkeit trotz ihrer abstrakten Arbeitsfähigkeit zu einer erheblichen Einschränkung der Vermittlungschancen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Diese Würdigung ist jedenfalls vertretbar und daher nicht zu beanstanden.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 1 i.V.m. § 135 Abs. 2 FGO.
Für eine Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen i.S. von § 139 Abs. 4 FGO besteht kein Anlass. Die Beigeladene ist im Revisionsverfahren nicht vertreten und es ist auch nicht erkennbar, dass ihr besondere außergerichtliche Kosten entstanden sind (vgl. BFH-Urteil vom 1. August 2001 II R 47/00, BFH/NV 2002, 788, m.w.N.).
Fundstellen
Haufe-Index 2120402 |
BFH/NV 2009, 638 |
BFH/PR 2009, 220 |
BStBl II 2010, 1057 |
BFHE 2008, 365 |
BFHE 223, 365 |
DB 2009, 718 |
DStRE 2009, 471 |
HFR 2009, 477 |