Leitsatz (amtlich)
1. Eine Steuerfestsetzung kann nur im Hinblick auf ungewisse Tatsachen, nicht im Hinblick auf die steuerrechtliche Beurteilung von Tatsachen für vorläufig erklärt werden.
2. Im Vorbehaltsvermerk müssen die Tatsachen angegeben werden, die als ungewiß betrachtet werden.
3. Eine vorläufige Steuerfestsetzung kann nicht im Hinblick auf eine veränderte steuerliche Beurteilung geändert werden. Dies gilt auch dann, wenn die Finanzbehörde einen entsprechenden Vorbehalt aufgenommen hat und dieser Vorbehalt wirksam sein sollte.
Orientierungssatz
Das FA kann sich die rechtliche Überprüfung einer Steuerfestsetzung nur dadurch vorbehalten, daß es die Steuerfestsetzung gemäß § 164 AO 1977 unter den Vorbehalt der Nachprüfung stellt. Wird eine vorläufige Steuerfestsetzung mit einer Steuerfestsetzung unter Vorbehalt der Nachprüfung verbunden (§ 165 Abs. 3 AO 1977), muß der Steuerbescheid ergeben, hinsichtlich welcher Tatsachen die Steuerfestsetzung gemäß § 165 Abs. 1 AO 1977 vorläufig sein soll und daß sie im übrigen der Nachprüfung gemäß § 164 AO 1977 unterliegt.
Normenkette
AO § 100 Abs. 1-2; AO 1977 § 165 Abs. 1-3, § 164
Verfahrensgang
FG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 11.11.1982; Aktenzeichen I 365/79) |
Tatbestand
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist als Steuerberater selbständig tätig. Zum Jahresbeginn 1975 gründete er mit einem Berufskollegen eine Sozietät und brachte seine Einzelpraxis in die Gesellschaft ein. Hierfür erhielt er von seinem Sozius eine Ausgleichszahlung in Höhe der Hälfte des Praxiswerts. Zur Einkommensteuerveranlagung 1975 erklärte der Kläger neben laufenden Einkünften aus selbständiger Tätigkeit auch einen entstandenen Veräußerungsgewinn; er beantragte insoweit, § 34 Abs.2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) anzuwenden und gemäß § 8 Abs.6 des Gesetzes über steuerliche Maßnahmen bei der Änderung der Unternehmensform vom 14.August 1969 --UmwStG 1969-- (BStBl I 1969, 498) die Einkommensteuer auf fünf Jahre zu verteilen. Im Einkommensteuerbescheid gewährte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) nur den ermäßigten Steuersatz. Der Bescheid ist als vorläufig bezeichnet; in der Anlage zum Steuerbescheid ist ausgeführt, daß die Festsetzung der Einkommensteuer hinsichtlich der Einkünfte aus selbständiger Tätigkeit vorläufig gemäß § 165 Abs.1 der Abgabenordnung (AO 1977) sei.
Gegen den Einkommensteuerbescheid legte der Kläger Einspruch ein. Im Laufe des Einspruchsverfahrens erläuterte das FA, daß der Veräußerungsgewinn tariflich besteuert werden müsse, weil nicht der volle Praxiswert realisiert worden sei; es kündigte eine Verböserung des Einkommensteuerbescheids an. Der Kläger nahm daraufhin seinen Einspruch zurück. Nunmehr erließ das FA unter Berufung auf § 165 Abs.2 AO 1977 einen endgültigen Einkommensteuerbescheid und unterwarf den Veräußerungsgewinn der Tarifbesteuerung. Hiergegen legte der Kläger wiederum Einspruch ein und beanstandete, daß das FA lediglich zu einer anderen steuerrechtlichen Beurteilung gekommen sei, daß aus diesem Grunde aber weder eine vorläufige Veranlagung noch eine Berichtigung des Bescheids zulässig sei. Der Einspruch wurde zurückgewiesen; auch die Klage hatte keinen Erfolg. Die Entscheidung des Finanzgerichts (FG) ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1983, 533 veröffentlicht.
Mit der Revision rügt der Kläger unzutreffende Anwendung der AO 1977.
Der Kläger beantragt sinngemäß, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils den geänderten Einkommensteuerbescheid aufzuheben und das FA zu verurteilen, den vorläufigen Einkommensteuerbescheid für endgültig zu erklären.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Auf die Revision des Klägers müssen das Urteil der Vorinstanz und der angefochtene Steuerbescheid aufgehoben werden.
1. Nach § 165 Abs.1 Satz 1 AO 1977 kann eine Steuer insoweit vorläufig festgesetzt werden, als ungewiß ist, ob und wieweit die Voraussetzungen für ihre Entstehung eingetreten sind. Ein Steueranspruch entsteht, wenn der Tatbestand verwirklicht ist, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft. Voraussetzung für die Entstehung der Steuerschuld sind damit wie im Falle des § 173 Abs.1 AO 1977 die Tatsachen, die den gesetzlichen Tatbestand oder einzelne Merkmale dieses Tatbestands erfüllen. Die steuerrechtliche Würdigung der Tatsachen ist selbst keine Tatsache und damit keine Voraussetzung, von der die Steuerfestsetzung abhängig gemacht werden könnte; eine Steuer kann deswegen nicht vorläufig bis zu einer abschließenden rechtlichen Würdigung durch die Finanzbehörde festgesetzt werden. Dies hat die Rechtsprechung bereits zu § 100 Abs.1 der Reichsabgabenordnung (AO) entschieden, der durch § 165 AO 1977 abgelöst wurde (vgl. Entscheidungen des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 28.Oktober 1964 V 71/62, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung --HFR-- 1965, 323; vom 25.März 1969 II R 5/66, BFHE 95, 422, BStBl II 1969, 445; vom 25.Oktober 1973 IV R 80/72, BFHE 110, 479, BStBl II 1974, 142). Entsprechendes gilt unter der AO 1977 (Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 11.Aufl., § 165 AO 1977 Anm.4; Kühn/Kutter/Hofmann, Abgabenordnung- Finanzgerichtsordnung, 14.Aufl., § 165 AO 1977 Anm.3; Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 7.Aufl., § 165 AO 1977 Anm.7; Frenkel, Deutsches Steuerrecht --DStR-- 1978, 465).
2. Ebensowenig kann ein vorläufig ergangener Steuerbescheid allein wegen einer geänderten steuerrechtlichen Beurteilung durch die Finanzbehörde geändert werden. § 165 Abs.2 Satz 1 AO 1977 bestimmt zwar ganz allgemein, daß die Finanzbehörde die vorläufige Steuerfestsetzung aufheben oder ändern kann. Dadurch wird der Finanzbehörde aber nur die Möglichkeit gegeben, vor Beseitigung der Ungewißheit die wahrscheinliche Sachverhaltsgestaltung zu berücksichtigen oder zu einer endgültigen Regelung zu gelangen, wenn mit einem Wegfall der Ungewißheit nicht mehr zu rechnen ist (Kühn/Kutter/Hofmann, a.a.O., § 165 AO 1977 Anm.6; Klein/Orlopp, Abgabenordnung, 2.Aufl., § 165 Anm.4; Tipke/Kruse, a.a.O., § 165 AO 1977 Anm.11).
Hinsichtlich jener Umstände, die zur vorläufigen Veranlagung geführt haben, bestimmt § 165 Abs.2 Satz 2 AO 1977, daß die vorläufige Steuerfestsetzung aufzuheben oder zu ändern ist, wenn die Ungewißheit beseitigt ist. Hiervon hat das FA Gebrauch machen wollen, um seine geänderte steuerliche Beurteilung durchzusetzen. Wie die Ungewißheit in § 165 Abs.1 Satz 1 AO 1977, muß sich aber auch die nunmehr gewonnene Gewißheit auf Tatsachen beziehen, die den gesetzlichen Steuertatbestand verwirklichen. Eine abweichende steuerrechtliche Beurteilung gehört nicht dazu (so zu § 100 Abs.1 AO Urteil in BFHE 95, 422, BStBl II 1969, 445, mit weiteren Nachweisen). Die der Finanzbehörde beim Erlaß vorläufiger Steuerbescheide auferlegte Beschränkung wäre wirkungslos, wenn sie bei der Ausübung des Änderungsrechts hieran nicht gebunden wäre. Für dieses Ergebnis spricht auch § 171 Abs.8 AO 1977. Danach endet die durch die vorläufige Veranlagung bewirkte Hemmung der Festsetzungsverjährung nicht vor Ablauf eines Jahres, nach dem die Ungewißheit beseitigt ist und die Finanzbehörde hiervon Kenntnis erhalten hat. Auf eine veränderte steuerrechtliche Beurteilung seitens der Finanzbehörde läßt sich diese Vorschrift nicht anwenden.
3. Hieran ändert auch der Umstand nichts, daß sich nach der dem vorläufigen Bescheid beigefügten Erläuterung die Vorläufigkeit auf die Einkünfte aus selbständiger Tätigkeit beziehen sollte. Dieser Vermerk entspricht nicht der Bestimmung des § 165 Abs.1 Satz 2 AO 1977, nach der Umfang und Grund der Vorläufigkeit anzugeben sind. Der Umfang der Vorläufigkeit wird durch die Tatsachen bestimmt, die die Finanzbehörde als ungewiß ansieht. Darum muß im Vorläufigkeitsvermerk nicht nur angegeben werden, hinsichtlich welcher Steuerfolgen die Veranlagung vorläufig ist, sondern auch, hinsichtlich welcher als ungewiß betrachteter Tatsachen sich die Finanzbehörde eine weitere Überprüfung vorbehält (Tipke/Kruse, a.a.O., § 165 AO 1977 Anm.8; Frenkel, DStR 1978, 465, 467). Die Angabe dieser Tatsachen bedeutet nicht, wie das FG meint, eine Begründung für die vorläufige Steuerfestsetzung; sie zeigt vielmehr die Grenzen für die vorbehaltene endgültige Steuerfestsetzung. Eine Begründung würde im Hinweis auf die Umstände liegen, die der abschließenden Steuerfestsetzung entgegenstehen.
Der Senat kann offenlassen, ob der Vorläufigkeitsvermerk im Streitfall deshalb wegen inhaltlicher Unbestimmtheit als nichtig anzusehen ist (dazu Tipke/Kruse, a.a.O., § 119 AO 1977 Anm.1; § 165 AO 1977 Anm.8). Selbst wenn der Vermerk nur rechtswidrig, mangels wirksamer Anfechtung aber gültig sein sollte, hätte er doch nur zur Folge, daß der Steuerbescheid im angegebenen Umfang wegen des Wegfalls tatsächlicher Ungewißheiten, nicht aber wegen einer veränderten rechtlichen Beurteilung geändert werden kann. Die Finanzbehörde kann ihren durch § 165 Abs.2 Satz 2 AO 1977 gesetzlich begrenzten Handlungsspielraum nicht durch einen erweiterten oder unbestimmt gefaßten Vorläufigkeitsvermerk ausdehnen. Sie kann sich die rechtliche Überprüfung des Steuerbescheids nur dadurch vorbehalten, daß sie die Steuerfestsetzung gemäß § 164 AO 1977 unter den Vorbehalt der Nachprüfung stellt, ohne daß dadurch allerdings der Ablauf der Frist für die Steuerfestsetzung gehemmt würde. Wäre der Finanzbehörde im Streitfall aufgrund des ausgesprochenen Vorbehalts die Überprüfung ihrer bisherigen rechtlichen Beurteilung erlaubt, hätte sie im Ergebnis eine auf eine einzelne Besteuerungsgrundlage beschränkte, verjährungshemmende Vorbehaltsfestsetzung vorgenommen. Zwar gestattet § 165 Abs.3 AO 1977 eine vorläufige Steuerfestsetzung mit einer Steuerfestsetzung unter Vorbehalt der Nachprüfung zu verbinden; in diesem Fall muß der Steuerbescheid ergeben, hinsichtlich welcher Tatsachen die Steuerfestsetzung gemäß § 165 Abs.1 AO 1977 vorläufig sein soll und daß sie im übrigen der Nachprüfung gemäß § 164 AO 1977 unterliegt. Im Streitfall sollte demgegenüber lediglich eine vorläufige Steuerfestsetzung gemäß § 165 Abs.1 AO 1977 vorgenommen werden.
Unter der Geltung von § 100 Abs.1 und 2 AO ist die Rechtsprechung davon ausgegangen, daß eine inhaltlich nicht näher beschränkte vorläufige Steuerfestsetzung gemäß § 100 Abs.1 AO den ganzen Steuerbescheid ergreife und auch eine Änderung wegen besserer Rechtserkenntnis zulasse (BFH-Urteile vom 29.September 1971 II R 70/70, BFHE 104, 102, BStBl II 1972, 195; BFHE 110, 479, BStBl II 1974, 142; vom 14.November 1974 IV R 3/70, BFHE 114, 22, BStBl II 1975, 281; Urteil des Bundesverwaltungsgerichts --BVerwG-- vom 22.März 1974 VII C 31/72, Steuerrechtsprechung in Karteiform --StRK--, Reichsabgabenordnung, § 212c, Rechtsspruch 7). Mit der AO 1977 hat sich die Rechtslage geändert, indem eine vorläufige Veranlagung nur noch unter den Voraussetzungen des § 165 Abs.1 Satz 1 AO 1977 in Betracht kommt, die Steuer auch nur "insoweit", d.h. im Hinblick auf die als ungewiß betrachteten Tatsachen vorläufig festgesetzt werden kann. Demgegenüber ist der Anwendungsbereich des § 164 AO 1977 im Vergleich zur Vorschrift des § 100 Abs.2 AO erweitert worden, die eine vorläufige Veranlagung nur zuließ, wenn der Steuerpflichtige der Betriebsprüfung unterlag oder die Finanzbehörde seiner Steuererklärung folgte. Die Entscheidung des Senats beinhaltet deshalb keine Abweichung gegenüber den angeführten Urteilen.
Fundstellen
Haufe-Index 61001 |
BStBl II 1985, 648 |
BFHE 143, 500 |
BFHE 1985, 500 |
BB 1986, 2304-2306 (ST) |
DB 1985, 1979-1980 (ST) |
HFR 1985, 447-448 (ST) |