Dr. Hubertus Gschwendtner
Leitsatz
Übernimmt ein Sozialhilfeträger im Rahmen der Eingliederungshilfe die gesamten Kosten für die vollstationäre Unterbringung eines behinderten volljährigen Kindes, kann er die Abzweigung des Kindergelds in voller Höhe für sich beanspruchen, wenn der Kindergeldberechtigte keinerlei Aufwendungen für den Unterhalt des Kindes oder die Kontaktpflege mit dem Kind trägt. Die Höhe des abzuzweigenden Kindergelds wird durch die in § 91 Abs. 2 Satz 3 BSHG in der ab 2002 geltenden Fassung getroffene Regelung über den Übergang des Unterhaltsanspruchs gegen die Eltern nicht auf nur monatlich 26 Euro beschränkt.
2. Das der Familienkasse bei der Entscheidung über die Abzweigung grundsätzlich zustehende Ermessen ist angesichts der besonderen Umstände dieses Sachverhalts auf null reduziert.
Normenkette
§ 74 Abs. 1 EStG , § 91 Abs. 2 Satz 3 BSHG (in der ab 2002 geltenden Fassung) , § 5 AO
Sachverhalt
Der Kläger – ein Sozialhilfeträger – gewährte der Tochter der Eltern, die nicht unterhaltspflichtig waren und auch keinen Unterhaltsbeitrag leisteten, Eingliederungshilfe i.H.v. 2.600 Euro monatlich. Er beantragte, das vom Beklagten festgesetzte Kindergeld i.H.v. 154 Euro an ihn auszuzahlen.
Der Beklagte war unter Hinweis auf § 91 Abs. 2 Satz 3 BSHG der Ansicht, dass er nur zur Zahlung von 26 Euro verpflichtet sei; das restliche Kindergeld zahlte er an den Vater des Kindes aus. Der Aufforderung des Klägers, an ihn 26 Euro zu zahlen, kam der Vater nicht nach.
Das FG gab der Klage, mit der der Kläger die Abzweigung des vollen Kindergelds an ihn beantragte, statt (EFG 2003, 1396).
Entscheidung
Der BFH wies die Revision zurück. Da der Kindergeldberechtigte mangels Leistungsfähigkeit nicht unterhaltungspflichtig gewesen sei, sei das Kindergeld an den Sozialhilfeträger zu zahlen. Dem Anspruch auf Abzweigung stehe auch nicht entgegen, dass nach § 91 Abs. 2 Satz 3 BSHG auf den Sozialhilfeträger ein Unterhaltsanspruch i.H.v. 26 Euro übergehe. Das gelte jedenfalls dann, wenn der Kindergeldberechtigte gar keine Leistungen erbringe.
Hinweis
Nach § 74 Abs. 1 Satz 3 EStG kann das für ein Kind nach § 66 Abs. 1 EStG festgestellte Kindergeld u.a. an die Stelle ausgezahlt werden, die dem Kind Unterhalt gewährt, wenn der Kindergeldberechtigte nicht unterhaltspflichtig ist oder nur Unterhalt i.H. eines Betrags zu leisten braucht, der geringer ist als das für die Auszahlung in Betracht kommende Kindergeld. Leistet der Kindergeldberechtigte keinen Beitrag zum Unterhalt des Kindes, reduziert sich das Ermessen der Familienkasse auf 0.
An diesem Ergebnis ändert sich auch der Höhe nach nichts, wenn der Sozialhilfeträger den Kindergeldberechtigten nach § 91 Abs. 2 Satz 3 BSHG n.F. auf Zahlung eines Betrags von 26 Euro monatlich in Anspruch nimmt. Der Anspruch auf diesen Betrag, der eine Prüfung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Eltern entbehrlich machen soll, geht im Weg der Fiktion auf den Sozialhilfeträger über. Wird er aber vom Kindergeldberechtigten nicht erfüllt, kann der Sozialhilfeträger die Abzweigung des Kindergelds in voller Höhe verlangen.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 17.2.2004, VIII R 58/03