Leitsatz
Werden Einnahmen eines angestellten Chefarztes aus der Erbringung wahlärztlicher Leistungen im Rahmen der Einkommensteuererklärung irrtümlich sowohl bei den Einkünften aus selbständiger Arbeit als auch bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit erklärt, weil weder der Chefarzt noch sein Steuerberater erkannt haben und nach den Umständen des Streitfalls auch nicht erkennen mussten, dass diese Einnahmen bereits dem Lohnsteuerabzug unterlegen haben, liegt kein "grobes Verschulden" i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO vor.
Normenkette
§ 173 Abs. 1 Nr. 2, § 174 Abs. 1 Satz 1 AO, § 18 Abs. 1 Nr. 1, § 19 Abs. 1 Satz 1 EStG
Sachverhalt
Der Kläger war in einem Krankenhaus als Chefarzt angestellt. Für seine Tätigkeit erhielt er eine feste monatliche Vergütung. Außerdem wurde ihm in seinem Dienstvertrag das Liquidationsrecht für von ihm erbrachte wahlärztliche Leistungen eingeräumt. Im Gegenzug war er verpflichtet, einen Teil der hierfür anfallenden Gebühren an das Krankenhaus zu leisten. Einen weiteren Teil hatte er in einen Pool zu zahlen, aus dem die nachgeordneten Ärzte der Abteilung vergütet wurden.
In den Streitjahren erbrachte der Kläger wahlärztliche Leistungen sowohl gegenüber stationär untergebrachten Patienten als auch in ambulanten Sprechstunden. Die Abrechnung der Wahlleistungen erfolgte über ein von dem Kläger beauftragtes privates Dienstleistungsunternehmen. Die Rechnungsbeträge aus den Privatliquidationen wurden einem privaten Bankkonto des Klägers gutgeschrieben.
Die Einnahmen des Klägers aus den stationär erbrachten Wahlleistungen behandelte das Krankenhaus als Bezüge aus dem Dienstverhältnis und unterwarf diese daher dem Lohnsteuerabzug. Die Einnahmen aus der ambulanten wahlärztlichen Tätigkeit berücksichtigte es nicht, weil es insoweit von außerhalb des Dienstverhältnisses erbrachten Leistungen des Klägers ausging. Eine Mitteilung des Krankenhauses, welche der Einnahmen aus den wahlärztlichen Leistungen dem Lohnsteuerabzug unterlegen hatten, erhielt der Kläger nicht. Die als lohnsteuerpflichtig eingestuften Einnahmen wurden in den Gehaltsmitteilungen des Klägers neben zahlreichen weiteren Angaben und ohne weitere Konkretisierung in der Zeile "Mitversteuerung" ausgewiesen.
In ihren ESt-Erklärungen erklärten die steuerlich vertretenen Kläger die Vergütungen aus sämtlichen wahlärztlichen Leistungen in der Einnahmenüberschussrechnung als Einnahmen des Klägers bei seinen Einkünften aus selbstständiger Arbeit. Das FA veranlagte die Kläger erklärungsgemäß. Die ESt-Bescheide für die Streitjahre wurden bestandskräftig.
Im Dezember 2014 beantragten die Kläger eine Änderung der Bescheide für die Streitjahre gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO mit der Begründung, es sei ihnen erst nachträglich bekannt geworden, dass die Einnahmen aus den stationär erbrachten Wahlleistungen vom Krankenhaus dem Lohnsteuerabzug unterworfen worden seien.
Das FA lehnte den Änderungsantrag der Kläger ab. Die Klage blieb ohne Erfolg (FG Münster, Urteil vom 15.2.2019, 14 K 2122/16 E, Haufe-Index 13757998, EFG 2020, 629). Das FG war der Auffassung, dass die Kläger hinsichtlich der unrichtigen Angabe der Einkünfte in den ESt-Erklärungen ein grobes Verschulden i.S.d. § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO treffe. Auch eine Änderung nach § 174 Abs. 1 Satz 1 AO komme nicht in Betracht, da die in den ESt-Bescheiden erfolgte doppelte Berücksichtigung der nur einmal erzielten Einnahmen aus den stationären Wahlleistungen für sich gesehen keine widerstreitende Steuerfestsetzung sei.
Entscheidung
Die Revision der Kläger war begründet. Der BFH hat das FG-Urteil aufgehoben, da das FG zu Unrecht die von den Klägern begehrte Änderung der angefochtenen ESt-Bescheide nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO abgelehnt hatte. Der BFH hat die Sache an das FG zurückverwiesen, da das FG ausgehend von seinem Rechtsstandpunkt keine ausreichenden Feststellungen zur Höhe der in den angefochtenen ESt-Bescheiden doppelt angesetzten Einnahmen getroffen hatte. Die zwischen den Beteiligten streitige Frage, ob die sich widersprechende Berücksichtigung der Einnahmen aus den stationären Wahlleistungen in ihrer tatsächlichen Höhe in den Lohnsteueranmeldungen der Streitjahre einerseits und die Berücksichtigung dieser Einnahmen in doppelter Höhe in den ESt-Bescheiden der Streitjahre als Arbeitslohn und als Betriebseinnahmen des Klägers aus selbstständiger Arbeit andererseits den Tatbestand der widerstreitenden Steuerfestsetzung i.S.d. § 174 Abs. 1 Satz 1 AO erfüllen, hat der BFH mangels Entscheidungserheblichkeit offengelassen.
Hinweis
Der BFH befasst sich im Besprechungsurteil mit der Frage, ob bestandskräftige ESt-Bescheide gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO geändert werden können, in denen die Einkünfte eines angestellten Chefarztes aus im Krankenhaus erbrachten wahlärztlichen Leistungen irrtümlich doppelt, nämlich sowohl bei den Einkünften aus nichtselbstständiger Arbeit als auch bei den Einkünften aus freiberuflicher Tätigkeit erfasst worden sind.
1. Nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO sind Steuerbescheide aufzuheben oder ...