Dipl.-Finanzwirt Arthur Röck
Leitsatz
Ein Anbieter von 24-Stunden-Pflege, der die 40%-Schwelle des § 4 Nr. 16 Buchst. e UStG a. F. nicht erreicht, kann sich für die Steuerfreiheit seiner Umsätze unmittelbar auf Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der 6. EGRL berufen. Für die Anerkennung als Einrichtung mit sozialem Charakter ist die 40%-Schwelle nicht anzuwenden, wenn er Verträge mit den Pflegekassen abgeschlossen hat und das Nicht-Erreichen der Schwelle nur darauf beruht, dass die Leistungen der Pflegekasse entsprechend der Pflegestufe nicht ausreichen und der zu Pflegende aufgrund seiner finanziellen Leistungsfähigkeit im Übrigen Selbstzahler ist.
Sachverhalt
Die klagende GmbH, deren alleiniger Gesellschafter und Geschäftsführer Krankenpfleger ist, tätigte den Geschäftsbereich der 24-Stunden-Pflege, die durch in Schlesien beheimatete Polinnen ausgeführt wurde. Die GmbH schloss mit verschiedenen Pflegekassen, Verbänden von Krankenkassen, der Bundesknappschaft sowie der Stadt M als Sozialhilfeträger einen Versorgungsvertrag gem. § 72 SGB XI. Später schloss die GmbH mit Frau E.W. einen ‚Pachtvertrag’, mit dem die im Vertrag festgelegte (begrenzte) Zahl an Pflegeverträgen gegen Zahlung einer monatlichen Pacht von 12.000 EUR inkl. MwSt auf Frau W übertragen wurde.
Entscheidung
Die 24-Stunden-Pflege Umsätze des Klägers sind steuerfrei. Zwar greift die Steuerbefreiung gemäß § 4 Nr. 16 Buchst. e UStG in der für die Streitjahre 2005 und 2006 gültigen Fassung für Einrichtungen zur ambulanten Pflege kranker und pflegebedürftiger Personen nicht, da im Vorjahr nicht in mindestens 40% der Fälle die Pflegekosten von den gesetzlichen Sozialversicherungsträgern oder der Sozialhilfe ganz oder zum überwiegenden Teil getragen worden waren.
Jedoch kann sich der Kläger unmittelbar auf die die Steuerbefreiung gem. Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der 6. EG-Richtlinie (jetzt "Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL") berufen. Danach sind befreit "die eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundenen Dienstleistungen ... durch Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder andere von dem betreffenden Mitgliedstaat als Einrichtungen mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtungen".
Bei den Umsätzen der GmbH aus der 24-Stunden-Pflege gegenüber den pflegebedürftigen Vertragspartnern handelt es sich unzweifelhaft um eng mit der Sozialfürsorge verbundene Dienstleistungen.
Auch handelt es sich bei der GmbH um eine ‚anerkannte Einrichtung mit sozialem Charakter’. Insoweit ist die "überwiegenden Übernahme der Kosten durch Sozialversicherungs- oder Sozialhilfeträger in mindestens 40% der Fälle" nicht maßgeblich. Der Kläger erbrachte mit der 24-Stunden-Pflege die gleichen Leistungen wie unter §§ 4 Nr. 18 UStG, 23 UStDV fallende Einrichtungen (z. B. die Diakonie). Bei Anwendung der 40%-Schwelle würden gleichartige Umsätze, abhängig vom Vermögen der "Pflegekunden" steuerlich unterschiedlich behandelt würden - was jedoch dem Neutralitätsgrundsatz widerspricht (vgl. Urteil des EuGH v. 15.11.2012 Rs. C-174/11, Zimmermann).
Auch reicht es für die Anerkennung als Einrichtung mit sozialem Charakter aus, dass aufgrund mit den Pflegekassen abgeschlossener Verträge die abgerechneten Pflegekosten dem Grunde nach übernehmbar sind (FG Münster, Urteil v. 14.1.2014, 15 K 4674/10 U). Des Weiteren wird bei einem Berufsbetreuer allein darauf abgestellt, dass dieser gerichtlich zur Erbringung von Betreuungsleistungen bestellt worden war und nicht darauf, ob die betreuten Personen die Kosten selbst getragen hatten (BFH, Urteil v. 25.4.2013, V R 7/11). Nach dem Urteil des Schleswig-Holsteinischen FG vom 17.7.2013 (4 K 104/12 - Revision anhängig, Az. des BFH: XI R 38/13) ist eine Privatklinik aufgrund des gleichen Leistungsangebots wie öffentliche Kliniken als steuerfreie Einrichtung anzuerkennen.
Hinweis
Nach Auffassung des FG Rheinland-Pfalz sind die Pachtumsätze 2006 der GmbH steuerpflichtig. Der Pachtvertrag stelle keine Geschäftsveräußerung im Ganzen gem. § 1 Abs. 1a UStG dar. Dagegen seien insoweit die Entgelte für Personalüberlassung gem. Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der 6. EGRL steuerfrei, da der Entleiher steuerfreie Pflegeleistungen an die Endkunden erbringt (BFH, Beschluss v. 21.8.2013, V R 20/12, zur Vorlage an den EuGH; dortiges Az. C-594/13).
Gegen das FG Rheinland-Pfalz wurde Revision eingelegt (Az. des BFH: XI R 23/14).
Link zur Entscheidung
FG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 10.04.2014, 6 K 1796/13