Leitsatz
Ordnet das BVerfG in einem sog. Anlassfall an, die Kläger hätten einen Anspruch darauf, dass der Erfolg ihrer Verfassungsbeschwerde sich für sie in einer den verfassungsrechtlichen Vorgaben entsprechenden einkommensteuerlichen Entlastung auswirkt, so obliegt es erforderlichenfalls dem BFH, vollen Rechtsschutz der Kläger durch eine entsprechende Herabsetzung der Einkommensteuer sicherzustellen, ohne dass es hierbei auf die im Klage- und Revisionsverfahren gestellten Anträge ankommt.
Normenkette
§ 33c EStG 1986 , § 32 Abs. 7 EStG 1986 , § 31 Abs. 1 BVerfGG
Sachverhalt
Die Kläger, beide berufstätig, haben drei Kinder, die im Streitjahr 1986 noch minderjährig waren. Nachdem die Kläger mit ihrem Begehren, Kinderbetreuungskosten anzuerkennen, sowohl vor dem FG als auch vor dem BFH gescheitert waren, führte ihre Verfassungsbeschwerde letztlich zum Erfolg. Das BVerfG wies u.a. den BFH an, die Kläger – anders als sonstige Betroffene, deren Verfahren nicht als Anlassfall erkoren worden waren – rückwirkend verfassungsgemäß zu besteuern.
Entscheidung
Der BFH setzte die Anweisungen des BVerfG – entsprechend den Ausführungen in den Praxis-Hinweisen – in vollem Umfang (unabhängig von den Anträgen der Kläger) um.
Hinweis
1. Der Leitsatz und die dahinter stehende Problematik erhellt sich erst, wenn die Vorgeschichte der Besprechungsentscheidung einbezogen wird.
Mit Beschluss vom 10.11.1998, 2 BvR 980/91 u.a., BStBl II 1999, 216 hatte das BVerfG wesentliche Teile des früheren einkommensteuerlichen Familienlastenausgleichs (vor 1996) für verfassungswidrig erklärt. Es hatte damals u.a. beanstandet, dass verheiratete Ehepaare mit Kindern keine Kinderbetreuungskosten und keinen Haushaltsfreibetrag geltend machen konnten. Die verfassungswidrigen Normen (im Verfahren VI R 87/99: § 33c und § 32 Abs. 7 EStG 1986) wurden vom BVerfG allerdings nicht für (rückwirkend) nichtig, sondern – insbesondere aus haushaltsrechtlichen Gründen – bis zu der gebotenen gesetzlichen Neuregelung (Kinderbetreuungskosten ab VZ 2000 und Haushaltsfreibetrag ab VZ 2002) weiterhin für anwendbar erklärt.
Anders jedoch als bei sonstigen Betroffenen, die den verfassungswidrigen Zustand bis zur Neuregelung hinnehmen mussten, hatte das BVerfG allerdings in den von ihm aufgegriffenen Ausgangsverfahren (Anlassfälle) bestimmt, die betreffenden Beschwerdeführer hätten einen Anspruch darauf, dass ihnen der Erfolg ihrer Verfassungsbeschwerden in den jeweils anhängigen Veranlagungszeiträumen zugute kommen müsse.
Nachdem weder der Gesetzgeber die Anlassfälle in eine gesetzliche Neuregelung (z.B. bei der Regelung des § 53 EStG) einbezogen noch die beklagten Finanzämter eine Abhilfe (z.B. im Weg einer Billigkeitsmaßnahme) in Betracht gezogen hatten, setzte der BFH nunmehr die Anweisung des BVerfG dergestalt um, dass den Revisionen der betroffenen Kläger in vollem Umfang stattgegeben wurde.
Als ausschlaggebenden Gesichtspunkt hob der BFH hervor, dass nach § 31 Abs. 1 BVerfGG alle Gerichte und Behörden an Entscheidungen des BVerfG gebunden sind. Diese Bindung hatte bereits im BFH-Urteil vom 26.3.2002, VI R 26/00, BFH-PR 2002, 325 eine entscheidende Rolle gespielt. Der BFH behandelte die Anweisung des BVerfG letztlich wie eine – rückwirkende – gesetzliche Regelung.
Nach Ansicht des BFH ging die verfassungsgerichtliche Bindung deshalb sogar so weit, dass die von Seiten der Kläger in den Klage- und Revisionsverfahren gestellten Anträge (vgl. § 96 FGO) als grundsätzlich nicht maßgeblich angesehen wurden. Im Ergebnis wurde den Klägern also mehr als beantragt zuerkannt.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 3.7.2002, VI R 87/99