Ewald Dötsch, Prof. Dr. Franz Dötsch
Leitsatz
Die schlüssige Rüge der Verletzung des Rechts auf Gehör erfordert keine Ausführungen darüber, was bei ausreichender Gewährung des rechtlichen Gehörs noch vorgetragen worden wäre und dass dieser Vortrag die Entscheidung des Gerichts hätte beeinflussen können, wenn das Gericht verfahrensfehlerhaft in Abwesenheit des Rechtsmittelführers aufgrund mündlicher Verhandlung entschieden hat.
Normenkette
§ 119 Nr. 3 FGO n.F. , § 120 Abs. 5 Nr. 2 Buchst. b FGO n.F. (§ 120 Abs. 2 Satz 2 FGO a.F.)
Sachverhalt
Die Kläger erhoben Klage gegen einen Einkommensteuerbescheid. Sie waren vor dem FG nicht durch einen Bevollmächtigten vertreten. Nach Zugang der Ladung zur mündlichen Verhandlung beantragten sie, den Termin aufzuheben, weil eine neutrale und objektive Verhandlung im Gebäude des FA nicht möglich sei. Das FG lehnte die Terminaufhebung ab.
In der mündlichen Verhandlung erschien für die Kläger niemand. Nach Schließung der mündlichen Verhandlung verkündete das FG den Beschluss, dass eine Entscheidung den Beteiligten zugestellt werde. Nach der mündlichen Verhandlung – noch am selben Tag – ging beim FG ein Schreiben der Kläger ein, dem ein ärztliches Attest ebenfalls vom selben Tag über die Krankheit des Klägers beigefügt war. In dem Schreiben heißt es, die Kläger gingen davon aus, dass ihnen wegen der Krankheit keinerlei Nachteile im Verfahren entstünden. Anderenfalls werde "Wiedereinsetzung in den vorigen Stand" beantragt.
Das FG wies die Klage ab, ohne die mündliche Verhandlung wieder zu eröffnen. Mit der Revision rügen die Kläger, das FG habe ihnen das Recht auf Gehör versagt. Es habe zu Unrecht abgelehnt, den Verhandlungstermin zu verlegen und die mündliche Verhandlung wieder zu eröffnen. Dies komme einem Ausschluss von der mündlichen Verhandlung gleich. Ausführungen darüber, was sie bei ausreichender Gewährung des rechtlichen Gehörs noch vorgetragen hätten und dass dies die Entscheidung des FG hätte beeinflussen können, machten sie nicht.
Der für das Revisionsverfahren zuständige VIII. Senat des BFH legte dem Großen Senat die von diesem nunmehr im Leitsatz verneinte Frage zur Entscheidung vor.
Entscheidung
Habe das Gericht aufgrund einer verfahrensfehlerhaften, ohne den Rechtsmittelführer durchgeführten mündlichen Verhandlung entschieden, so werde die Ursächlichkeit dieser Verletzung des rechtlichen Gehörs für die angefochtene Entscheidung gem. § 119 Nr. 5 FGO unwiderlegbar vermutet. Die Rüge dieses Verfahrensmangels gem. § 120 Abs. 2 Satz 2 FGO a.F. (§ 120 Abs. 3 Nr. 2 Buchst. b FGO) erfordere daher nicht die Darlegung, was der Rechtsmittelführer in der mündlichen Verhandlung noch vorgetragen hätte und inwieweit dies die Entscheidung hätte beeinflussen können.
Die unwiderlegbare Kausalitätsvermutung des § 119 Nr. 5 EGO gelte jedenfalls dann uneingeschränkt, wenn ein Gericht das rechtliche Gehör verletze, weil es verfahrensfehlerhaft in Abwesenheit des Klägers aufgrund mündlicher Verhandlung entscheide. Dies folge zunächst aus dem systematischen Zusammenhang der Regelung des § 119 Nr. 3 FGO mit den Vorschriften des § 119 Nrn. 4 und 5 FGO. Dieses Ergebnis entspreche auch dem allen absoluten Revisionsgründen gemeinsam zugrunde liegenden Gesetzeszweck.
Hinweis
1. Mit diesem Beschluss hat der Große Senat die innerhalb der einzelnen Senate des BFH bestehende Kontroverse über die Anforderungen an die schlüssige Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs für die Fälle beigelegt, in denen der Rechtsmittelführer aus unverschuldeten Gründen an der mündlichen Verhandlung vor dem FG nicht teilnehmen konnte. Er hat sich dabei im Ergebnis und auch in den wesentlichen Argumenten dem vorlegenden VIII. Senat (Vorlagebeschluss vom 8.4.1998, VIII R 32/95, BStBl II 1998, 676) angeschlossen.
Die Entscheidung ist nicht nur deshalb zu begrüßen, weil sie die bisher bestehende Rechtsunsicherheit in einer wichtigen, sich sowohl im Rahmen von Nichtzulassungsbeschwerden als auch von Revisionen immer wieder stellenden Verfahrensfrage beseitigt hat und zugleich Divergenzen zur Rechtsprechung des BVerwG vermeidet. Sie verdient auch deswegen Zustimmung, weil sie – den verfassungsrechtlichen Vorgaben (vgl. Art. 19 Abs. 4 und Art. 20 Abs. 3 GG) folgend sowie der Wertentscheidung des FGO-Gesetzgebers über die essenzielle Bedeutung der mündlichen Verhandlung im (Finanzgerichts-)Prozess Rechnung tragend – einer sachwidrigen und förmelnden Überspitzung der Zulässigkeitsvoraussetzungen der Gehörsrüge entgegenwirkt und damit die prozessualen Rechte der Beteiligten stärkt.
2. Ausdrücklich offen gelassen hat der Große Senat allerdings die Frage, ob dieselben Grundsätze auch dann gelten, wenn – anders als im hier zu beurteilenden Ausgangsfall – die (behauptete) Versagung des rechtlichen Gehörs nicht den Ausschluss von der mündlichen Verhandlung und damit den gesamten Streitstoff erfasst, sondern nur einzelne Feststellungen, Rechtsfragen und Verfahrenshandlungen betrifft. Insoweit verlangt die bisher ständige Rechtsprechung des BFH (ebenso wie die des BVerwG) bis...