Leitsatz

Bei der im Aussetzungsverfahren nach § 69 Abs. 3 FGO gebotenen summarischen Prüfung bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines Steuerbescheids für das Jahr 1997, mit dem das FA Einkommensteuer auf Spekulationsgewinne aus dem Verkauf von Wertpapieren festgesetzt hat.

 

Normenkette

Art. 3 Abs. 1 GG , Art. 19 Abs. 4 GG , § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b EStG

 

Sachverhalt

Der Antragsteller erklärte für das Streitjahr (1997) zunächst keine Einkünfte aus Spekulationsgeschäften. Nach entsprechender Veranlagung unter Vorbehalt der Nachprüfung wurden die Spekulationsgewinne im Rahmen einer Außenprüfung festgestellt und durch Einkommensteueränderungsbescheid berücksichtigt. Den mit dem dagegen erhobenen Einspruch gestellten Antrag auf Aussetzung der Vollziehung (wegen Verfassungswidrigkeit der Besteuerung von Spekulationsgewinnen) lehnten FA und FG ab.

Dagegen richtet sich die vom FG zugelassene Beschwerde des Antragstellers.

 

Entscheidung

Nach Auffassung des BFH hat der Antragsteller Anspruch auf Aussetzung der Vollziehung, weil eine Interessensabwägung im Streitfall – ihre Notwendigkeit unterstellt – jedenfalls zugunsten des Antragstellers ausfalle. Denn ein sofortiger Vollzug der hier streitigen Einkommensteuer auf Spekulationsgewinne würde den Verstoß gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG konkretisieren und perpetuieren.

Demgegenüber seien keine überwiegenden öffentlichen Belange ersichtlich, die es rechtfertigen könnten, den Rechtsschutzanspruch des Antragstellers zurückzustellen. Insbesondere das öffentliche Interesse an einer geordneten Haushaltswirtschaft spiele im Streitfall schon deshalb keine entscheidende Rolle, weil der Fiskus selbst die Durchsetzung des Steueranspruchs wegen struktureller Vollzugshindernisse weitgehend vereitelt habe und die Norm tatsächlich durch die Finanzämter nicht vollzogen werde.

 

Hinweis

1. FG oder BFH können als Gericht der Hauptsache die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsakts wegen ernstlicher Zweifel an dessen Rechtmäßigkeit aussetzen (§ 69 Abs. 3 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 FGO). Ernstliche Zweifel liegen vor, wenn bei summarischer Prüfung neben für die Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige, gegen die Rechtmäßigkeit sprechende Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung der Rechtsfragen – auch hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit der Rechtsgrundlagen – oder Unklarheit in der Beurteilung der Tatfragen bewirken (vgl. BFH, Urteil vom 5.3.2001, IX B 90/00, BFH-PR 2001, 142).

2. Ernstliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Besteuerung des hier streitigen Spekulationsgewinns nach § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b EStG hat der BFH bereits durch Vorlagebeschluss an das BVerfG bejaht (BFH vom 16.7.2002, IX R 62/99, BFH-PR 2003, 9). Ob aus solchen ernstlichen verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Norm (stets) auch ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Steuerbescheids folgen, ist im Hinblick auf die Rechtsprechung des BVerfG nicht unproblematisch, nach der es in Fällen der Verfassungswidrigkeit zumeist die Norm nicht für nichtig erklärt, sondern dem Gesetzgeber für eine gebotene Neuregelung im Interesse des rechtsstaatlichen Kontinuitätsgebots Übergangsfristen einräumt und bis zu deren Ablauf eine weitere Anwendung der Norm billigt – mit der Folge, dass die Rechtsbehelfe gegen die unter Hinweis auf die Verfassungswidrigkeit angefochtenen Bescheide erfolglos bleiben (z.B. sog. Zinsurteil des BVerfG vom 27.6.1991, 2 BvR 1493/89, BStBl II 1991, 654).

Nach Auffassung des BFH ist allerdings von der Möglichkeit einer solchen Übergangsfrist für den Gesetzgeber in der zu erwartenden BVerfG-Entscheidung nur auszugehen, wenn – wie im Zinsurteil – ein Bedürfnis nach Rechtskontinuität zu bejahen ist. Da das BVerfG ein Vollzugsdefizit als Nichtigkeitsgrund für Steuergesetze bereits im Zinsurteil verfassungsrechtlich klargestellt hat, kann dieser nunmehr auch im Vorlagebeschluss des BFH benannte Grund für die Verfassungswidrigkeit der Spekulationsgewinnbesteuerung nicht mehr wegen "überraschender Klarstellung" durch das BVerfG eine Übergangsfrist für den Gesetzgeber gebieten.

3. Nach ständiger BFH-Rechtsprechung ist bei ernstlichen verfassungsrechtlichen Zweifeln an der Gültigkeit einer Rechtsnorm ein berechtigtes Interesse des Antragstellers an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes erforderlich. Geboten ist danach eine Interessenabwägung zwischen der einer Aussetzung der Vollziehung entgegenstehenden konkreten Gefährdung der öffentlichen Haushaltsführung und den für eine Aussetzung der Vollziehung sprechenden individuellen Interessen des Steuerpflichtigen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 3.4.1992, 2 BvR 283/92, HFR 1992, 726; BFH, Beschluss vom 27.8.2002, XI B 94/02, BFH-PR 2003, 13).

 

Link zur Entscheidung

BFH, Beschluss vom 11.6.2003, IX B 16/03

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