Leitsatz
1. Die Fiktion des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 kann dazu führen, dass der Anspruch auf Kindergeld nach §§ 62ff. EStG nicht dem in Deutschland, sondern vorrangig dem im EU-Ausland lebenden Elternteil zusteht (Anschluss an die Senatsurteile vom 4. Februar 2016 III R 17/13, BFHE 253, 134, BStBl II 2016, 612, und vom 28. April 2016 III R 68/13, BFH/NV 2016, 1514).
2. Für eine (vorrangige) Anspruchsberechtigung eines nicht freizügigkeitsberechtigten Elternteils müssen die Voraussetzungen i.S. des § 62 Abs. 2 EStG erfüllt sein.
Normenkette
§ 62 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2, § 63 Abs. 1, § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG, Art. 1 Buchst. g, Buchst. z, Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 Buchst. j, Art. 11 Abs. 1, Abs. 3 Buchst. a, Art. 67 VO (EG) Nr. 883/2004, Art. 60 Abs. 1 VO (EG) Nr. 987/2009
Sachverhalt
Der Kläger ist ruandischer Staatsangehöriger und lebt in Deutschland. Er ist im Besitz einer unbefristeten Niederlassungserlaubnis und sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Mit notarieller Urkunde erkannte er die Vaterschaft der im Oktober 2011 geborenen L an, die bei der Kindsmutter in Belgien lebt. Die Kindsmutter bezieht seit der Geburt belgisches Kindergeld in Höhe von monatlich 86,77 EUR.
Die Familienkasse lehnte den Antrag des Klägers auf Festsetzung von Kindergeld ab. Mit der hiergegen gerichteten Klage begehrte der Kläger Differenzkindergeld in Höhe von monatlich 97,23 EUR. Das FG gab der Klage statt (FG Münster, Urteil vom 1.2.2013, 4 K 997/12 Kg, Haufe-Index 3677043, EFG 2013, 709).
Entscheidung
Die Revision der Familienkasse führte zur Aufhebung des FG-Urteils und zur Zurückverweisung der Streitsache. Im zweiten Rechtsgang ist zu klären, ob die Kindsmutter eine nicht freizügigkeitsberechtigte Ausländerin ist und ggf. die Voraussetzungen des § 62 Abs. 2 EStG erfüllt.
Hinweis
1. Das vorliegende Urteil gehört wiederum zu den "Trapkowski-Fällen" (siehe bereits BFH/PR 2016, 276, 277 sowie 371), die dadurch gekennzeichnet sind, dass ein Anspruchsberechtigter – wie von § 62 Abs. 1 EStG vorausgesetzt – im Inland wohnt, und das Kind im Haushalt des anderen (potenziellen) Anspruchsberechtigten in einem anderen EU- oder EWR-Mitgliedstaat lebt. Letzterem kann das Kindergeld zustehen, weil gemäß Art. 67 VO (EG) Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 VO (EG) Nr. 987/2009 ein Inlandswohnsitz fingiert wird. Da für jedes Kind nur einem Berechtigten Kindergeld gezahlt wird, kann das den Anspruch des im Inland lebenden Elternteils ausschließen (§ 64 Abs. 1 EStG), wenn es sich nicht um einen gemeinsamen Haushalt beider Elternteile handelt.
2. Der mit dem Kind im Ausland zusammenlebende (potenzielle) Anspruchsberechtigte muss allerdings – außer dem inländischen Wohnsitz – "alle anderen durch das nationale Recht vorgeschriebenen Voraussetzungen für die Gewährung" des Kindergeldanspruchs erfüllen. Das erforderte z.B. laut BFH, Urteil vom 15.6.2012, III R 60/12 (BFH/NV 2016, 1633, BFH/PR 2016, 370) ein Pflegekindschaftsverhältnis nach deutschem Recht. Im Streitfall hatte das FG keine Feststellungen dazu getroffen, ob die Kindsmutter eine (nicht) freizügigkeitsberechtigte Ausländerin i.S.d. § 62 Abs. 2 EStG ist, worauf die Geburtsurkunde des Kindes hindeutete.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 7.7.2016 – III R 11/13