Leitsatz
1. Das FG darf bei der Überprüfung einer Ermessensentscheidung ohne Verstoß gegen § 102 Satz 2 FGO auch solche Erwägungen der Behörde berücksichtigen, die sich nicht aus den Gründen des angegriffenen Bescheids oder der Einspruchsentscheidung ergeben, sondern lediglich aus den Akten des FA.
2. Die Haftungsquote darf, wenn sie sich anders nicht feststellen lässt, geschätzt werden, auch wenn dem Haftungsschuldner eine Verletzung seiner Mitwirkungspflicht bei der Ermittlung der Haftungsquote nicht vorgeworfen werden kann.
Normenkette
§ 102 Satz 2, § 115 Abs. 2, § 126 Abs. 4 FGO, § 69 AO , * Leitsatz nicht amtlich
Sachverhalt
Der ehemalige Geschäftsführer einer GmbH wurde vom FA als Haftungsschuldner für unbeglichene Umsatzsteuerschulden in Anspruch genommen. Der Mitgeschäftsführer blieb unbehelligt, weil das FA eine Beitreibung bei ihm für von vornherein aussichtslos hielt. Dies ergab sich allerdings lediglich aus einem entsprechenden Aktenvermerk, nicht aus dem Haftungsbescheid und der dazu ergangenen Einspruchsentscheidung.
Das FA trug im Klageverfahren vor, der Mitgeschäftsführer könne wegen Mittellosigkeit nicht mit Aussicht auf Erfolg in Haftung genommen werden. Dies berücksichtigte das FG bei seiner Entscheidung, worin der eingangs genannte Geschäftsführer einen Verstoß gegen § 102 Satz 2 FGO sah und dies als Verfahrensmangel mit der Nichtzulassungsbeschwerde rügte.
Außerdem beanstandete er, dass das FG den Akten zu Unrecht entnommen habe, der Kläger habe die zur Ermittlung der Haftungsquote benötigten betrieblichen Unterlagen der GmbH ungeordnet in einen Schuppen geworfen, so dass sie nicht mehr ausgewertet werden könnten; die betreffenden Aktenvermerke bezögen sich nicht auf den Kläger, sondern auf einen anderen, der nach dem Ausscheiden des Klägers die Geschäfte geführt habe und für dessen Verhalten der Kläger nicht verantwortlich gemacht werden dürfe.
Entscheidung
Der BFH hat die Revision nicht zugelassen. Gegen § 102 Satz 2 FGO habe das FG nicht verstoßen und hinsichtlich der Ermittlung der Haftungsquote, die das FA durch Schätzung vorgenommen hatte, sei sein Urteil ungeachtet der Berechtigung des gegen den Kläger erhobenen Vorwurfs der Verletzung seiner Mitwirkungspflicht jedenfalls im Ergebnis richtig und die Revision daher nach § 126 Abs. 4 FGO nicht zuzulassen, weil die Haftungsquote anders nicht zu ermitteln gewesen sei.
Hinweis
1. Eine Ermessensentscheidung kann nach Abschluss des Verwaltungsverfahrens nur in engen Grenzen "nachgebessert" werden, indem zu ihrer Begründung Erwägungen erst im Klageverfahren vorgetragen werden. Der BFH hat jedoch in der Besprechungsentscheidung klargestellt, dass bei Anwendung des § 102 Satz 2 FGO nicht etwa nur darauf abzustellen ist, welche Ermessenerwägungen die Behörde in den Gründen ihres Bescheids und ihrer Einspruchsentscheidung zur Rechtfertigung ihrer Ermessensentscheidung angeführt hat, sondern dass jedenfalls unter dem Gesichtspunkt des § 102 Satz 2 FGO auch Erwägungen berücksichtigt werden dürfen, die lediglich in den Akten ihren Niederschlag gefunden haben. Das Urteil vom 11.3.2004, VII R 52/02 (BFH-PR 2004, 284) konnte man noch anders verstehen!
2. Ob dann allerdings ein Begründungsmangel vorliegen kann, der wegen Unanwendbarkeit des § 127 AO zur Aufhebung der Entscheidung führen muss, ist unentschieden geblieben.
3. Ebenso musste der BFH in der Besprechungsentscheidung die Frage offen lassen, ob ein Verstoß des FG gegen § 102 Satz 2 FGO einen Verfahrensmangel i.S.d. § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO darstellt, also zur Zulassung der Revision führen muss, oder lediglich eine materiell-rechtlich falsche Rechtsanwendung, die grundsätzlich eine Revisionszulassung nicht rechtfertigt.
4. Die bei Anwendung der Grundsätze der sog. anteiligen Tilgung zu ermittelnde sog. Haftungsquote lässt sich i.d.R. nur anhand der betrieblichen Unterlagen des Steuerschuldners feststellen; dabei trifft den Haftungsschuldner eine gesteigerte Mitwirkungspflicht. Sind die Unterlagen nicht mehr vorhanden oder können sie aus anderen Gründen nicht ausgewertet werden, muss die Haftungsquote geschätzt werden, und darf sie geschätzt werden, wenn der Ermittlungsausfall im Verantwortungsbereich der vom Haftungsschuldner vertretenen GmbH seine Ursache hat. Ein Unsicherheitszuschlag darf dabei zulasten des Haftungsschuldners aber nur dann vorgenommen werden, wenn dieser die genaue Ermittlung der Quote vereitelt oder verschuldet hat, dass sie nicht ermittelt werden kann.
5. Prüfen Sie auch bei einer Nichtzulassungsbeschwerde, die Sie auf Verfahrensfehler des FG stützen wollen, stets nicht nur, ob das Urteil auf dem Verfahrensfehler beruhen kann (dieser also tatsächlich für die getroffene Entscheidung kausal geworden ist), sondern auch, ob das Urteil nicht aus anderen, vom FG nicht angestellten Überlegungen, auf die der Verfahrensfehler keinen Einfluss gehabt hätte, richtig ist. Denn auch dann ist die Revision in entsprechender Anwendung des § 126 Abs. 4 FGO nicht zuzulassen!
Link zur Entscheidung
BFH,...