Prof. Dr. Stefan Schneider
Leitsatz
Aufwendungen eines Ehepaars für eine heterologe künstliche Befruchtung können als außergewöhnliche Belastungen zu berücksichtigen sein (Änderung der Rechtsprechung im BFH-Urteil vom 18.05.1999, III R 46/97, BFH/NV 1999, 1424).
Normenkette
§ 33 EStG
Sachverhalt
K leidet an organisch bedingter Sterilität. K und seine Ehefrau F entschlossen sich deshalb zur Erfüllung des beiderseitigen Kinderwunsches zur donogenen Insemination (Spendersamen). Nach eingehender Beratung auch über die rechtlichen Aspekte und möglichen Folgen der Verwendung von heterologen Samen genehmigte die Kommission der Ärztekammer die Behandlung.
K und F machten mit ihrer ESt-Erklärung die mit der künstlichen Befruchtung entstandenen Kosten (21 345 EUR) beim FA erfolglos als außergewöhnliche Belastung geltend. Die Klage dagegen war erfolgreich (Niedersächsisches FG, Urteil vom 05.05.2010, 9 K 231/07, Haufe-Index 2351746, EFG 2010, 1694).
Entscheidung
Der BFH bestätigte in Änderung seiner bisherigen Rechtsprechung aus den unter Praxis-Hinweisen dargestellten Erwägungen die Auffassung der Vorinstanz.
Hinweis
Die vom BFH letztlich bejahte Grundfrage des Besprechungsfalls lautete: Lässt sich aufgrund der Krankheit des Ehemanns die Behandlung seiner Ehefrau als Aufwendung zur Heilung oder Milderung einer Krankheit beurteilen?
1. Aufwendungen zu Heilungszwecken oder mit dem Ziel, die Krankheit erträglich zu machen, sind grundsätzlich als außergewöhnliche Aufwendungen abziehbar (vgl. zuletzt BFH, Urteil vom 02.09.2010, VI R 11/09, BFH/NV 2011, 125, BFH/PR 2011, 46). Daher gehören dazu auch medizinische Maßnahmen, die den körperlichen Mangel nicht beseitigen, sondern nur ausgleichen: z.B. Zahnersatz, Brillen, Hörapparate, Rollstühle, Blindencomputer, Treppenschräglifte. All diese Maßnahmen gelten regelmäßig als krankheitsbedingt entstandene außergewöhnliche Belastung, obwohl sie den körperlichen Mangel nicht beheben. Zuletzt kam es so zu einer Änderung der Rechtsprechung bezüglich der Aufwendungen für eine künstliche Befruchtung einer unverheirateten Frau (BFH, Urteil vom 10.05.2007, III R 47/05, BFH/NV 2007, 1968, BFH/PR 2007, 408).
2. Aber: in Bezug auf die hier einschlägige Fallgruppe (künstliche Befruchtung einer verheirateten Frau mit Spermien eines Dritten) gab es noch die im Leitsatz zitierte entgegenstehende frühere Rechtsprechung des BFH. Diese gab der für den Bereich der außergewöhnlichen Belastungen zuständige VI. Senat des BFH jetzt auf. Nunmehr sind auch Aufwendungen für eine medizinisch angezeigte heterologe künstliche Befruchtung als Krankheitskosten zu beurteilen und damit nach § 33 EStG zu berücksichtigen. Der BFH stützt sich insoweit auch auf die Rechtsprechung der anderen Bundesgerichte (BGH, BVerwG, BSG) und den dort entwickelten Krankheitsbegriff. Danach gilt die organisch bedingte Sterilität eines Ehepartners als Krankheit, weil die Fortpflanzungsfähigkeit für die Ehepartner, die sich für ein eigenes Kind entscheiden, eine biologisch notwendige Körperfunktion darstellt.
I. S. d. vorstehenden Krankheitsbegriffs – nicht nur Ursachenbeseitigung, sondern auch Linderung der Krankheit – kann die ärztliche Tätigkeit auch auf die Ersatzfunktion für ein ausgefallenes Organ gerichtet sein, so wie eben hier im Streitfall. Die intracytoplasmatische Spermieninjektion ersetzt die gestörte Fertilität der Spermien durch einen ärztlichen Eingriff, um dadurch die organisch bedingte Unfruchtbarkeit eines Mannes zu überwinden und eine Schwangerschaft zu ermöglichen. Die Maßnahme beseitigt damit die Kinderlosigkeit eines Paares, der zwar nicht selbst Krankheitswert zukommt, aber eine unmittelbare Folge der Erkrankung des K ist.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 16.12.2010 – VI R 43/10