Leitsatz
Aufwendungen für eine Liposuktion zur Behandlung eines Lipödems können jedenfalls ab dem Jahr 2016 ohne vorherige Vorlage eines vor den Operationen erstellten amtsärztlichen Gutachtens oder einer ärztlichen Bescheinigung eines Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung als außergewöhnliche Belastung zu berücksichtigen sein.
Normenkette
§ 33 Abs. 1 EStG, § 64 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 Buchst. f EStDV
Sachverhalt
Die Klägerin litt seit Jahren an einem Lipödem (krankhafte Fettverteilungsstörung). Da konservative Behandlungsmethoden keine Besserung bewirkten, unterzog sie sich im Streitjahr (2017) auf Anraten ihres behandelnden Arztes einer Liposuktion (operative Fettabsaugung). Ihre Krankenkasse übernahm die Kosten der Operation nicht. Denn der Gemeinsame Bundesausschuss der Krankenkassen (GBA) hat die Liposuktion – trotz eines seit dem Jahr 2014 laufenden Prüfungsverfahrens – noch nicht zur "Kassenleistung" erhoben. Die Klägerin machte die Behandlungskosten als außergewöhnliche Belastung geltend. Das FA lehnte dies unter Berufung auf die frühere BFH-Rechtsprechung ab, da es sich bei der Liposuktion um eine wissenschaftlich nicht anerkannte Behandlungsmethode handele und die Klägerin weder – wie vom Gesetz gefordert – ein vor Behandlungsbeginn ausgestelltes amtsärztliches Gutachten noch eine ärztliche Bescheinigung des Medizinischen Dienstes vorgelegt habe. Das FG gab der nach erfolglosem Vorverfahren erhobenen Klage nach einer umfangreichen Auswertung medizinischer Fachbeiträge statt (Sächsisches FG, Urteil vom 10.9.2020, 3 K 1498/18, Haufe-Index 14184728).
Entscheidung
Die Revision des FA hat der BFH als unbegründet zurückgewiesen.
Hinweis
1. Nach § 33 Abs. 1 EStG wird die ESt auf Antrag ermäßigt, wenn einem Steuerpflichtigen zwangsläufig größere Aufwendungen als der überwiegenden Mehrzahl der Steuerpflichtigen gleicher Einkommensverhältnisse, gleicher Vermögensverhältnisse und gleichen Familienstands (außergewöhnliche Belastung) erwachsen. Zwangsläufig erwachsen dem Steuerpflichtigen Aufwendungen dann, wenn er sich ihnen aus rechtlichen, tatsächlichen oder sittlichen Gründen nicht entziehen kann und soweit die Aufwendungen den Umständen nach notwendig sind und einen angemessenen Betrag nicht übersteigen (§ 33 Abs. 2 Satz 1 EStG).
2. In ständiger Rechtsprechung geht der BFH davon aus, dass Krankheitskosten – ohne Rücksicht auf die Art und die Ursache der Erkrankung – dem Steuerpflichtigen aus tatsächlichen Gründen zwangsläufig erwachsen. Allerdings werden nur solche Aufwendungen als Krankheitskosten berücksichtigt, die zum Zweck der Heilung einer Krankheit (z.B. Medikamente, Operation) oder mit dem Ziel getätigt werden, die Krankheit erträglicher zu machen (BFH, Urteil vom 18.6.2015, VI R 68/14, BFH/NV 2015, 1480 m.w.N.).
3. Den Nachweis der Zwangsläufigkeit von Aufwendungen im Krankheitsfall hat der Steuerpflichtige in den abschließend geregelten Katalogfällen des § 64 Abs. 1 Nr. 2 EStDV und damit bei krankheitsbedingten Aufwendungen für wissenschaftlich nicht anerkannte Behandlungsmethoden, wie z.B. Frisch- und Trockenzellenbehandlungen, Sauerstoff-, Chelat- und Eigenbluttherapie (§ 64 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 Buchst. f EStDV), durch ein vor Beginn der Heilmaßnahme oder dem Erwerb des medizinischen Hilfsmittels ausgestelltes amtsärztliches Gutachten oder eine vorherige ärztliche Bescheinigung eines Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (§ 275 SGB V) zu führen.
4. Wissenschaftlich nicht anerkannt ist eine Behandlungsmethode, wenn Qualität und Wirksamkeit dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse nicht entsprechen (BFH, Urteil vom 26.6.2014, VI R 51/13, BFH/NV 2014, 1936, BStBl II 2015, 9). Hierunter fallen Behandlungsmethoden, die die große Mehrheit der einschlägigen Fachleute (Ärzte, Wissenschaftler) nicht befürwortet, weil sich die Methoden in der medizinischen Praxis nicht bewährt haben und über ihre generelle Wirksamkeit und/oder Zweckmäßigkeit nennenswert Streit besteht, sie folglich nicht auf einem tragfähigen medizinisch-wissenschaftlichen Konsens gründen. Demgegenüber ist von einem solchen Konsens schon dann auszugehen, wenn die vorgesehene Behandlung den evidenzbasierten Handlungsempfehlungen eines institutionalisierten Expertengremiums entspricht. Dazu zählen etwa die Stellungnahmen des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer und ebenso die von führenden medizinischen Gesellschaften erstellten Leitlinien, welche den – nach definiertem, transparent gemachtem Vorgehen erzielten – Konsens zu bestimmten ärztlichen Vorgehensweisen wiedergeben und denen deshalb die Bedeutung wissenschaftlich begründeter Handlungsempfehlungen zukommt. Die Anforderungen an die vorgenannten Handlungsempfehlungen dürfen zudem nicht überspannt werden. Denn wie sich den in § 64 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 Buchst. f EStDV aufgeführten Regelbeispielen entnehmen lässt, soll sich das formalisierte Nachweisverlangen nur auf Aufwendungen für Behandlungsmethoden erstrecken, deren Auswirkung auf die Heilung od...