Leitsatz
1. Auch eine nach Ablauf der Regel-Sperrfrist von sechs Monaten erhobene Untätigkeitsklage ist nicht ohne weiteres zulässig; sie kann jedoch in die Zulässigkeit hineinwachsen.
2. Bei einer verfrüht erhobenen Untätigkeitsklage hat das FG eine be?fris?tete Aussetzung des Klageverfahrens nach pflichtgemäßem Ermessen zu prüfen. Angesichts der in § 46 Abs. 1 Sätze 1 und 2 FGO aufgeführten unbestimmten Rechtsbegriffe wird eine Aussetzung regelmäßig geboten sein.
3. Weist das Finanzgericht die Untätigkeitsklage gleichwohl als unzulässig ab, so hat es in der Urteilsbegründung seine leitenden Ermessenserwägungen hinsichtlich der versagten Aussetzung des Klageverfahrens offen zu legen. Geschieht dies nicht, kann ein Verfahrensmangel i.S.d. § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO vorliegen.
Normenkette
§ 46 FGO
Sachverhalt
Im Zug von Ermittlungsmaßnahmen gegen X teilte die Steuerfahndung dem FA am 17.2.2003 mit, die ESt-Veranlagungen der Kläger für 1999 bis 2001 seien (wegen verdeckter Gehaltszahlungen) schnellstmöglich durchzuführen. Die Ermittlungen der Steuerfahndung seien noch nicht abgeschlossen. Das FA erließ da?raufhin am 2.4.2003 entsprechende ESt-Bescheide, in denen es die mitgeteilten Beträge erfasste.
Mit Schreiben vom 13.10.2003 drohten die Kläger an, Untätigkeitsklage (§ 46 Abs. 1 FGO) zu erheben. Hierauf teilte das FA am 21.10.2003 mit, über den Einspruch könne nicht entschieden werden, da der Ermittlungsbericht der Steuerfahndung noch nicht vorliege.
Die am 28.10.2003 erhobene Untätigkeitsklage wies das FG mit Urteil vom 17.3.2004 als unzulässig ab. Aufgrund der schwierigen Auslandsermittlungen sei dem FA (Steuerfahndung) ein zusätzliches Zeitkontingent zuzubilligen.
Entscheidung
Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Kläger hob der BFH die Vorentscheidung auf. Das FG habe die – nach seiner Auffassung verfrüht erhobene – Untätigkeitsklage durch Prozessurteil abgewiesen. Es habe allerdings weder geprüft noch in den Gründen seiner Entscheidung dargelegt, ob im Streitfall eine Aussetzung des Verfahrens (§ 46 Abs. 1 Satz 3 FGO) geboten gewesen wäre. Hierin liege ein Verfahrensmangel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO).
Hinweis
1. Regelmäßig ist eine Klage nur zulässig, wenn das Vorverfahren über den außergerichtlichen Rechtsbehelf (z.B. das Einspruchsverfahren) ganz oder zum Teil erfolglos geblieben ist (§ 44 Abs. 1 FGO).
2. Ausnahme: Eine Klage ist vor Abschluss eines Vorverfahrens zulässig, wenn über einen außergerichtlichen Rechtsbehelf ohne Mitteilung eines zureichenden Grunds in angemessener Zeit sachlich nicht entschieden wurde (§ 46 FGO). Das Gesetz geht dabei davon aus, dass dem FA regelmäßig eine Bearbeitungszeit für den Rechtsbehelf von sechs Monaten zusteht. Eine vorzeitig erhobene Klage ist deshalb grundsätzlich unzulässig.
3. Eine nach Ablauf der (Regel-)Sperrfrist erhobene Klage ist gleichwohl nicht automatisch zulässig. Denn die Tatbestandsvoraussetzung "in angemessener Zeit" verliert auch nach Ablauf von sechs Monaten nicht ohne weiteres ihre Bedeutung. Vielmehr ist in einem solchen Fall nach den gesamten Umständen des Falls zu beurteilen, ob eine Bearbeitungszeit, die über sechs Monate hinausgeht, noch "angemessen" ist. Dabei sind auf der einen Seite der Umfang und die rechtlichen Schwierigkeiten des Falls und auf der anderen Seite das Interesse des Rechtsbehelfsführers an baldiger Entscheidung gegeneinander abzuwägen.
4. Auch bei einer Untätigkeitsklage ist zu beachten, dass es sich bei den in § 46 Abs. 1 FGO angeführten Tatbestandsvoraussetzungen nicht um Zugangsvoraussetzungen handelt mit der Folge, dass bei ihrem Nichtvorliegen von einer unheilbar unzulässigen Klage auszugehen ist; vielmehr handelt es sich auch hierbei um Sachentscheidungsvoraussetzungen, die erst zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung erfüllt sein müssen. Demzufolge hat der BFH in ständiger Rechtsprechung angenommen, auch eine Untätigkeitsklage könne in die Zulässigkeit hineinwachsen. Dies gilt auch in den Fällen, in denen eine Klage nach Ablauf von sechs Monaten verfrüht erhoben wird.
5. Nach § 46 Abs. 1 Satz 3 FGO kann das Gericht das Verfahren bis zum Ablauf einer bestimmten Frist, die verlängert werden kann, aussetzen. Eine Aussetzungs pflicht besteht nicht. Das FG hat vielmehr ein Ermessen, ob es das Verfahren mit (ggf. wiederholt verlängerbarer) Fristsetzung aussetzt oder die (verfrüht erhobene) Untätigkeitsklage abweist.
6. Bei dem Für und Wider des Ermessens wird ein FG indessen Folgendes zu beachten haben: Ein Kläger wird regelmäßig nicht mit hinreichender Sicherheit beurteilen können, zu welchem Zeitpunkt die (verfrüht erhobene) Untätigkeitsklage in die Zulässigkeit hineinwächst. Die Vorhersehbarkeit des Ausgangs eines Verfahrens wird nicht unerheblich auch dadurch beeinträchtigt, dass im Tatbestand des § 46 Abs. 1 Sätze 1 und 2 FGO mehrere unbestimmte Rechtsbegriffe (u.a. "in angemessener Frist", "zureichender Grund") kombiniert werden. Unter Beachtung verfassungsrechtlicher Vorgaben wird deshalb eine Aussetzung des Klageverfahrens...