Dr. Markus Leinen, Prof. Dr. Harald Kessler
Rz. 207
§ 255 Abs. 4 HGB definiert den Bewertungsbegriff "beizulegender Zeitwert". Die Vorschrift ist Teil der allgemeinen handelsrechtlichen Bewertungsmaßstäbe.
Rz. 208
Der beizulegende Zeitwert entspricht grds. dem Marktpreis. Nur für den Fall, dass sich kein Marktpreis ermitteln lässt, ist der beizulegende Zeitwert durch anerkannte Bewertungsmethoden zu bestimmen. Die anerkannten Bewertungsmethoden müssen zu einem beizulegenden Zeitwert führen, der an den Marktpreis angenähert ist. Ist die Ermittlung des beizulegenden Zeitwerts durch eine anerkannte Bewertungsmethode nicht möglich, sind die AHK gem. § 253 Abs. 4 HGB fortzuführen, wobei der zuletzt ermittelte beizulegende Zeitwert als AHK gilt.
Rz. 209
Der beizulegende Zeitwert nach § 255 Abs. 4 HGB darf nicht mit dem beizulegenden Wert nach § 255 Abs. 3 Satz 3, Abs. 4 Satz 2 HGB verwechselt werden. Der beizulegende Zeitwert entspricht im Wesentlichen dem Einzelveräußerungspreis eines VG oder einer Schuld. Demgegenüber ist der beizulegende Wert in Abhängigkeit von der Art der VG beschaffungsmarkt- oder absatzmarktorientiert zu ermitteln. Bspw. wird der beizulegende Wert von Sachanlagen i. S. d. § 253 Abs. 3 Satz 3 HGB grds. durch ihre Wiederbeschaffungskosten (in Abhängigkeit von Alter, Zustand, technischem Stand) bestimmt. Einzelveräußerungspreise sind nur insoweit anzusetzen, wie eine Veräußerungsabsicht besteht.
Ein Wertpapier wird zu einem Kurs von 100 EUR erworben. Beim Erwerb sind Anschaffungsnebenkosten (Provision etc.) von 5 EUR (5 %) angefallen, sodass sich die AK mit 105 EUR bestimmen. Am Bilanzstichtag wird das Wertpapier an der Börse zu einem Kurs von 120 EUR gehandelt; es besteht keine Veräußerungsabsicht.
Der beizulegende Zeitwert entspricht dem Marktwert, also 120 EUR. Der beizulegende Wert bestimmt sich demgegenüber mit 126 EUR (120 EUR zzgl. 5 %).
Rz. 210
Sinn und Zweck der Bewertung zum beizulegenden Zeitwert ist es, dem Abschlussadressaten ein zutreffenderes Bild von der Vermögenslage des berichtenden Unt zu geben, als dies bei anderen Bewertungsvorschriften wie z. B. der Bewertung zu fortgeführten AHK der Fall ist. Dabei bezieht sich die verbesserte Informationsfunktion auf die Bilanz und die "richtige" Vermögensermittlung. Die Informationsfunktion des Periodenergebnisses i. S. e. nachhaltigen prognosefähigen Ergebnisses wird demgegenüber eingeschränkt. Das Periodenergebnis kann von zufälligen Schwankungen des beizulegenden Zeitwerts überlagert werden.
Rz. 211
Fraglich ist, ob die Bilanzierung zum beizulegenden Zeitwert dem Grundsatz des Realisationsprinzips (§ 252 Abs. 1 Nr. 4 2. Hs. HGB) widerspricht. Nach dem Realisationsprinzip sind Gewinne nur zu berücksichtigen, wenn sie am Abschlussstichtag realisiert sind. Teilweise wird die Auffassung vertreten, dass die Bilanzierung zum beizulegenden Zeitwert dem Realisationsprinzip dann nicht widerspricht, wenn der beizulegende Zeitwert dem Marktpreis auf einem aktiven Markt entspricht. In diesen Fällen würde die Bewertung zum beizulegenden Zeitwert das Realisationsprinzip konkretisieren. Durch das Bestehen eines aktiven Markts sei die Wertänderung des Bewertungsobjekts jederzeit realisierbar. Der Grundsatz des quasisicheren Gewinns sei erfüllt. Würde hingegen eine Bewertung zu fortgeführten AHK als Wertobergrenze gefordert, wäre dem Bilanzierenden ein faktisches Wahlrecht bzgl. des Realisierungszeitpunkts eröffnet. Aufgrund des Bestehens eines aktiven Markts könnte er den zu bewertenden VG jederzeit veräußern und kurze Zeit später wieder zurückerwerben. Alternativ könnte er die bisherigen AHK als Bewertungsobergrenze fortführen.
U. E. widerspricht die Bewertung zum beizulegenden Zeitwert dem Realisationsprinzip. Der Gewinn aus der Bewertung zu einem höheren beizulegenden Zeitwert wird nicht durch einen Umsatzakt realisiert. Den o. a. Ausführungen zum faktischen Wahlrecht bzgl. des Realisationszeitpunkts kann nicht gefolgt werden. Zum einen ist dieses Wahlrecht lediglich ein Gestaltungs- und kein Bilanzierungswahlrecht. Zum anderen ergeben sich aus den beiden Alternativen (VG wird unverändert fortgeführt oder VG wird veräußert und zeitnah zurückerworben) aufgrund der Nebenkosten für Veräußerung und Rückerwerb unterschiedliche Konsequenzen.
Außerdem widerspricht die Bewertung zum beizulegenden Zeitwert in den Fällen dem Realisationsprinzip, in denen der beizulegende Zeitwert aufgrund fehlender aktiver Märkte durch allgemein anerkannte Bewertungsmethoden zu bestimmen ist. In diesen Fällen besteht eine besondere Unsicherheit bzgl. der Gewinne aus den Wertänderungen. Es entsteht kein quasisicherer Gewinn.
Da § 255 Abs. 4 HGB jedoch lex specialis gegenüber dem Realisationsprinzip ist, schränkt der Widerspruch gegenüber dem Realisationsprinzip seinen Anwendungsbereich nicht ein. § 255 Abs. 4 HGB ist eine gesetzlich kodifizierte Ausnahme vom Realisationsprinzip.
Rz. 212
Soweit VG i. S. d. § 246 Abs. 2 Satz 2 HGB (Deckungsvermögen für Altersversorgungsverpflichtungen) zu ihrem über...