Leitsatz
1. Verkauft eine Bäckerei in Filialen, die sich teilweise in "Vorkassenzonen" eines Supermarkts befinden, Speisen zum Verzehr vor Ort auf Mehrweggeschirr und mit Mehrwegbesteck, das es nach dem Verzehr der Speisen zurücknimmt und reinigt, führt sie damit (ebenso wie ein Partyservice) sonstige Leistungen aus, die vor Inkrafttreten des § 12 Abs. 2 Nr. 15 UStG dem Regelsteuersatz unterlagen.
2. Art. 6 Abs. 1 Sätze 1 und 3 MwSt-DVO sind auch in Besteuerungszeiträumen vor ihrem Inkrafttreten anwendbar, weil sie rückwirkend Begriffe klären, die sich bereits zuvor in der Richtlinie 77/388/EWG bzw. der Richtlinie 2006/112/EG befunden haben.
3. Eine Änderung der Richterbank steht der Anwendung des § 126a FGO nicht entgegen.
Normenkette
§ 3 Abs. 1, § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG, § 12 Abs. 2 Nr. 15 UStG i.d.F. vom 19.6.2020, Art. 5 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1 6. EG-RL (= EWGRL 388/77), Art. 6 MwSt-DVO, § 126a FGO
Sachverhalt
Eine KG betrieb u.a. im Streitjahr (2006) Konditoreien und Cafés. In insgesamt 84 Filialen stellte die KG Tische und Stühle bereit, wobei sich diese überwiegend in den Filialen, vereinzelt aber auch zusätzlich im Freien befanden. 71 Filialen befanden sich in sog. Vorkassenzonen von Lebensmittelmärkten. 13 Filialen waren separat betriebene Ladengeschäfte.
In allen 84 Filialen erfolgte die Ausgabe der zum Verzehr vor Ort bestimmten Waren und Speisen an den Kunden grundsätzlich direkt am Verkaufstresen. Zur Rücknahme des ausgegebenen Geschirrs standen Regale bereit. Anschließend wurde das Geschirr von Arbeitnehmern der KG gereinigt.
Nach zwei Außenprüfungen bei der KG für das Streitjahr ging das FA davon aus, dass die KG zu Unrecht auf die Umsätze aus dem Verkauf der vor Ort verzehrten belegten Brötchen und Kuchenteile den ermäßigten Steuersatz angewandt habe. Die Umsätze zum Regelsteuersatz seien entsprechend zu erhöhen.
Mit der Einspruchsentscheidung half das FA dem Einspruch insoweit ab, als es die Umsätze der Filialen, die keine Sitzplätze vorhielten, dem ermäßigten Steuersatz unterwarf und die USt für das Streitjahr entsprechend herabsetzte. Im Übrigen, d.h. im Hinblick auf die Umsätze der 84 Filialen mit Sitzplatzangebot, wies es den Einspruch als unbegründet zurück.
Die Vorinstanz (FG Münster, Urteil vom 3.9.2019, 15 K 2553/16 U, Haufe-Index 13477135, EFG 2019, 1793) wies die Klage ab. Beim Verkauf von Backwaren und Fast Food zum Verzehr vor Ort in den mit Sitzgelegenheiten ausgestatteten Filialen der KG stünden die Dienstleistungselemente im Vergleich zu den Elementen einer Lieferung von Speisen im Vordergrund.
Entscheidung
Der BFH wies die Revision einstimmig als unbegründet zurück, weil die tatsächliche Würdigung des FG revisionsrechtlich nicht zu beanstanden sei. Schon allein aufgrund der Überlassung und Reinigung des Geschirrs liege eine Dienstleistung vor.
Der BFH wendete das Beschlussverfahren des § 126a FGO an, obwohl sich durch die urlaubsbedingte Abwesenheit eines Senatsmitglieds im Laufe des Verfahrens die Richterbank geändert hatte.
Hinweis
1. Nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MwSt-DVO gilt die Abgabe zubereiteter oder nicht zubereiteter Speisen und/oder von Getränken, zusammen mit ausreichenden unterstützenden Dienstleistungen, die deren sofortigen Verzehr ermöglichen, als (Restaurant- und Verpflegungs-)Dienstleistung. Auf solche Leistungen ist (außerhalb des zeitlichen Anwendungsbereichs des § 12 Abs. 2 Nr. 15 UStG) der Regelsteuersatz anzuwenden.
2. Was sind nun "ausreichende unterstützende Dienstleistungen", die den sofortigen Verzehr ermöglichen?
a) Die ausreichenden unterstützenden Dienstleistungen des Unternehmers (nicht: die eines Dritten) müssen
- ausreichend sein, um den sofortigen Verzehr der Speisen zu gewährleisten, sowie
- im Verhältnis zu deren Abgabe überwiegen.
b) Davon geht der BFH z.B. dann aus, wenn der Unternehmer den Kunden Geschirr, Besteck oder Mobiliar (Tische mit Sitzgelegenheit) zur Verfügung stellt bzw. kundeneigenes Geschirr oder Besteck nach dem Verzehr der Speisen reinigt.
c) Wenn hingegen die Abgabe von Nahrungsmitteln nur mit der Bereitstellung behelfsmäßiger Vorrichtungen (z.B. ganz einfacher Verzehrtheken ohne Sitzgelegenheit) einhergeht und dadurch nur ein geringfügiger personeller Einsatz erforderlich ist, stellen diese Elemente geringfügige Nebenleistungen dar, die am Vorliegen einer Lieferung nichts ändern können.
d) Bei der Abgabe von Speisen zum Mitnehmen liegt jedenfalls eine (ermäßigt zu besteuernde) Lieferung vor.
Link zur Entscheidung
BFH, Beschluss vom 15.09.2021, XI R 12/21 (XI R 25/19)