Entscheidungsstichwort (Thema)
Voraussetzungen von grundsätzlicher Bedeutung und greifbarer Gesetzwidrigkeit
Leitsatz (NV)
1. Eine Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung, wenn sie die Beurteilung eines atypischen und singulären Sachverhalts betrifft, der nach Maßgabe seiner individuellen Besonderheiten zu würdigen ist.
2. Eine Zulassung der Revision wegen greifbarer Gesetzwidrigkeit setzt voraus, dass die angefochtene Entscheidung objektiv willkürlich und unter keinem Gesichtspunkt rechtlich vertretbar ist. Das ist bei einer Schätzung nur dann der Fall, wenn deren Ergebnis wirtschaftlich unmöglich und offensichtlich realitätsfremd ist (Anschluss an BFH-Rechtsprechung).
Normenkette
FGO § 115 Abs. 2 Nrn. 1-2
Verfahrensgang
FG Köln (Urteil vom 29.10.2008; Aktenzeichen 13 K 1968/05) |
Tatbestand
I. Die Beteiligten streiten darüber, in welchem Umfang der Kläger und Beschwerdegegner (Kläger) für Steuerschulden einer vermögenslosen GmbH haftet.
Der Kläger war zunächst Geschäftsführer und seit November 1993 Prokurist der X-GmbH, von deren Stammkapital er 80 % hielt. Die X-GmbH gab für 1998 keine Steuererklärungen ab, weshalb der Beklagte und Beschwerdeführer (das Finanzamt --FA--) ihr gegenüber Bescheide über Körperschaftsteuer und Umsatzsteuer mit geschätzten Besteuerungsgrundlagen erließ. Im Zusammenhang mit der Festsetzung der Umsatzsteuer teilte der Kläger dem FA u.a. mit, die Buchhaltung der X-GmbH werde nunmehr von S geführt, der in Kürze zum Geschäftsführer der X-GmbH bestellt werde. Daraufhin gab das FA eine Einspruchsentscheidung zur Körperschaft- und Umsatzsteuer 1998 sowohl dem S als auch F bekannt, den es als den damaligen Geschäftsführer der X-GmbH ansah. Nachdem im weiteren Verlauf Bescheide für 2001 dem S nicht zugestellt werden konnten, erfolgte deren Bekanntgabe an F. Inzwischen ist unstreitig, dass F im Zeitpunkt der Bekanntgabe der Bescheide bereits als Geschäftsführer der X-GmbH zurückgetreten war.
Die X-GmbH schuldet dem FA Abgaben in Höhe von 75 508,41 €. Sie wurde im Mai 2003 als vermögenslos im Handelsregister gelöscht. Daraufhin nahm das FA den Kläger für einen Teilbetrag des Abgabenrückstands in Höhe von 60 406,28 € durch Haftungsbescheid in Anspruch. Zur Begründung heißt es in diesem Bescheid u.a., der Kläger habe es nach dem Rücktritt des F pflichtwidrig unterlassen, einen neuen Geschäftsführer zu bestellen. Zudem sei er selbst faktischer Geschäftsführer der X-GmbH gewesen. Angaben zur Berechnung der Haftungsquote habe der Kläger nicht gemacht. Sein Einwand, die dafür notwendigen Unterlagen befänden sich bei S, greife nicht durch; der Kläger müsse sich jene Unterlagen ggf. vermittels eines Rechtsstreits beschaffen und hierzu bei Bedarf Prozesskostenhilfe (PKH) beantragen. Es könne nicht festgestellt werden, dass die X-GmbH im Haftungszeitraum zahlungsunfähig gewesen sei; auch sei kein Insolvenzverfahren eingeleitet worden. Zur Abgeltung bestehender Unsicherheiten werde die Haftungssumme aber um 20 % der Abgabenrückstände vermindert. Ein Einspruch des Klägers gegen den Haftungsbescheid hatte keinen Erfolg.
Der daraufhin erhobenen Klage gegen den Haftungsbescheid gab das Finanzgericht (FG) überwiegend statt. Es führte aus, der Kläger sei im Haftungszeitraum faktischer Geschäftsführer der X-GmbH gewesen und habe seine Verpflichtung, für eine Entrichtung der gegen die X-GmbH festgesetzten Abgaben zu sorgen, grob fahrlässig verletzt. Er hafte daher dem Grunde nach für die Steuerschulden der X-GmbH. Doch könne er nicht in Höhe von 80 % des Rückstands in Anspruch genommen werden. Denn es sei nicht geklärt, über welche finanziellen Mittel die X-GmbH im Haftungszeitraum verfügt habe. Die Feststellungslast liege insoweit beim FA. Zwar müsse der Haftende an der Aufklärung des Sachverhalts mitwirken. Das FA habe es aber unterlassen, mögliche eigene Ermittlungen zur Haftungsquote anzustellen, z.B. durch Nachfrage bei S. Es könne den Kläger nicht darauf verweisen, die Unterlagen von S mit Hilfe von PKH einzuklagen, da der Kläger für einen solchen Prozess nicht aktivlegitimiert sei und eine vermögenslose GmbH keine PKH erhalte. Angesichts dessen sei die Haftungsquote im Wege der gerichtlichen Schätzung zu bestimmen. Auf dieser Basis änderte das FG den Haftungsbescheid in der Weise, dass es den Haftungsbetrag auf 13 914,12 € festsetzte. Die Revision gegen sein Urteil ließ es nicht zu.
Mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde macht das FA geltend, dass die Revision gemäß § 115 Abs. 2 Nrn. 1, 2 und 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zuzulassen sei.
Der Kläger ist der Nichtzulassungsbeschwerde entgegengetreten.
Entscheidungsgründe
II. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unbegründet. Die vom FA geltend gemachten Gründe für eine Zulassung der Revision liegen, soweit sie ordnungsgemäß dargelegt worden sind, nicht vor.
1. Nach § 115 Abs. 2 FGO ist die Revision gegen ein finanzgerichtliches Urteil zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (Nr. 1), wenn die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) erfordert (Nr. 2) oder wenn das Urteil auf einem geltend gemachten und vorliegenden Verfahrensmangel beruhen kann (Nr. 3). Wird darauf eine Nichtzulassungsbeschwerde gestützt, so muss der Zulassungsgrund in der Beschwerdebegründung dargelegt werden (§ 116 Abs. 3 Satz 3 FGO). Bei der inhaltlichen Prüfung des Beschwerdevorbringens können nur die ordnungsgemäß dargelegten Zulassungsgründe berücksichtigt werden.
2. Im Streitfall geht es um eine Haftung wegen Körperschaftsteuer und Umsatzsteuer. Insoweit gilt nach der Rechtsprechung des BFH der "Grundsatz der anteiligen Tilgung", nach dem eine in § 34 der Abgabenordnung (AO) genannte Person nur dann in vorwerfbarer Weise ihre Pflichten verletzt und deshalb nach § 69 AO haftet, wenn sie die ihr zur Verfügung stehenden Mittel nicht zumindest anteilig zur Bedienung der Steuerschulden des Hauptschuldners eingesetzt hat. Hiernach kommt es zur Bestimmung des Haftungsumfangs u.a. darauf an, welche finanziellen Mittel im Haftungszeitraum zur Bedienung der gesamten Verbindlichkeiten vorhanden waren und welche Verbindlichkeiten ihnen gegenüberstanden. Das FA hält nunmehr die Frage für grundsätzlich bedeutsam, welcher Beteiligte in diesem Zusammenhang die Feststellungslast für den Umfang der vorhandenen Mittel einerseits und die Höhe der Gesamtverbindlichkeiten andererseits trägt. Dem kann sich der Senat nicht anschließen.
a) Grundsätzliche Bedeutung i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO hat eine Rechtsfrage, wenn sie im Interesse der Allgemeinheit einer Klärung bedarf und im konkreten Rechtsstreit geklärt werden kann. Eine Klärungsfähigkeit in diesem Sinne ist nur dann gegeben, wenn erwartet werden kann, dass die Frage in einem den konkreten Einzelfall betreffenden Revisionsverfahren geklärt werden würde (Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 115 Rz 31, m.w.N.). Allein die Möglichkeit, dass der BFH in einem solchen Verfahren Ausführungen grundsätzlicher Art machen könnte, rechtfertigt eine Zulassung der Revision nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO nicht.
b) Die vom FA aufgeworfene Rechtsfrage mag sich zwar in allgemeiner Form in einer Vielzahl von Fällen stellen; das FA hat dazu mit Recht darauf verwiesen, dass in neuerer Zeit die Vermögenslosigkeit einer Kapitalgesellschaft häufig zur Einschaltung eines "Firmenbestatters" führt, dem u.a. Buchführungsunterlagen der Kapitalgesellschaft und andere bei ihr befindliche Schriftstücke übergeben werden. Der Senat hält es für durchaus möglich, dass in Bezug auf solche Sachverhalte die vom FA angesprochene Frage der grundsätzlichen Klärung bedarf. Sie kann jedoch insoweit im Streitfall nicht geklärt werden, da es hier nicht um die Einschaltung eines "Firmenbestatters" geht. Vielmehr sind nach den bindenden Feststellungen des FG (§ 118 Abs. 2 FGO) die in Rede stehenden Unterlagen einem Buchhalter der X-GmbH übergeben worden, der seinerzeit als (künftiger) Geschäftsführer der X-GmbH vorgesehen war und jetzt für den Kläger nicht mehr erreichbar ist. Es handelt sich insoweit um einen atypischen und singulären Sachverhalt, der im Hinblick auf die Frage nach einer Verletzung der Mitwirkungspflicht nach Maßgabe seiner individuellen Besonderheiten beurteilt werden muss. Deshalb ließen sich, wenn ein Revisionsurteil Aussagen zur Verteilung der Feststellungslast in der hier zu beurteilenden Situation enthalten würde, diese Aussagen nicht auf den Fall der "Firmenbestattung" übertragen. Sie könnten sich vielmehr nur auf die Bewertung der konkret vorliegenden Gestaltung beziehen und damit zwar ggf. zur Korrektur des FG-Urteils führen. Es ist aber für sich genommen nicht Aufgabe des Beschwerdeverfahrens, die Korrektur eines Rechtsfehlers im Einzelfall zu ermöglichen. Angesichts dessen ist für eine Zulassung der Revision nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO unter diesem Gesichtspunkt kein Raum.
c) Im Ergebnis dasselbe gilt im Hinblick auf den Vortrag des FA, es sei klärungsbedürftig, ob die Anfrage eines Registergerichts wegen der beabsichtigten Löschung einer GmbH als vermögenslos ein Indiz für die Zahlungsunfähigkeit oder für erhebliche Zahlungsschwierigkeiten der GmbH sein könne. Das FG hat im Streitfall eine solche indizielle Bedeutung der Anfrage zwar bejaht. Dabei handelt es sich aber um die tatrichterliche Würdigung eines vom FG festgestellten Umstands. Durch die ständige höchstrichterliche Rechtsprechung ist indessen geklärt, dass im finanzgerichtlichen Verfahren der Grundsatz der freien Beweiswürdigung herrscht, weshalb sich die Aufstellung fester Beweisregeln verbietet (Senatsbeschluss vom 24. September 2008 I B 58/08, BFH/NV 2009, 176); es bedarf keiner weiteren Klärung, dass dieser Grundsatz auch im Hinblick auf die Eignung eines bestimmten Umstands (hier: Anfrage des Registergerichts) als Indiz für das Vorliegen eines anderen Umstands (hier: Zahlungsunfähigkeit der X-GmbH) gilt. Der Sache nach zielen die genannten Ausführungen des FA letztlich darauf ab, die vom FG vorgenommene Würdigung in Frage zu stellen; auf diese Weise kann eine Zulassung der Revision jedoch nicht erreicht werden (BFH-Beschlüsse vom 13. August 2007 VII B 345/06, BFH/NV 2008, 23; vom 6. November 2007 IX B 64/07, BFH/NV 2008, 242; vom 5. Juni 2008 IX B 249/07, BFH/NV 2008, 1512).
3. § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO hält das FA zum einen deshalb für einschlägig, weil das FG von mehreren --in der Beschwerdebegründung bezeichneten-- Entscheidungen des BFH abgewichen sei. Die damit geltend gemachte Divergenz hat es aber nicht in der gebotenen Weise dargelegt, was keiner Begründung bedarf (§ 116 Abs. 5 Satz 2 FGO). Mit seinem weiteren Vortrag, das angefochtene Urteil sei im Hinblick auf die Schätzung der für die Haftungsquote maßgebenden Umstände greifbar gesetzwidrig, kann das FA ebenfalls nicht durchdringen.
Es trifft zwar zu, dass die greifbare Gesetzwidrigkeit einer Entscheidung eine Revisionszulassung nach § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO gebieten kann. In diesem Sinne greifbar gesetzwidrig ist eine Entscheidung aber nur dann, wenn sie objektiv willkürlich und unter keinem Gesichtspunkt rechtlich vertretbar ist (BFH-Beschluss vom 1. September 2008 IV B 4/08, BFH/NV 2009, 35). Daran fehlt es im Streitfall:
Das FG war, nachdem sich die genannten Umstände nicht abschließend aufklären ließen, zu einer Schätzung berechtigt und verpflichtet (§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO i.V.m. § 162 Abs. 1 und 2 AO). Das zieht auch das FA nicht in Zweifel. Eine zur Anwendung des § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO führende greifbare Gesetzwidrigkeit ist indessen bei einer dem Grunde nach berechtigten Schätzung nur dann anzunehmen, wenn deren Ergebnis wirtschaftlich unmöglich und offensichtlich realitätsfremd ist (BFH-Beschlüsse vom 12. November 2008 V B 41/08, BFH/NV 2009, 402; vom 21. Januar 2009 X B 125/08, BFH/NV 2009, 951, m.w.N.). Ein solcher Sachverhalt liegt im Streitfall nicht vor. Die vom FG vorgenommene Schätzung mag zwar aus den vom FA genannten Gründen angreifbar sein. Sie beruht aber auf zulässigen und nachvollziehbaren Erwägungen und führt zu einem Ergebnis, das nicht als wirtschaftlich unmöglich angesehen werden kann. Daher leidet das angefochtene Urteil insoweit allenfalls unter einem "schlichten" Rechtsfehler, der nicht zur Zulassung der Revision führen kann.
4. Die vom FA angebrachten Verfahrensrügen sind nicht ordnungsgemäß erhoben worden. Dazu wird erneut auf eine Begründung verzichtet (§ 116 Abs. 5 Satz 2 FGO).
Fundstellen