Entscheidungsstichwort (Thema)
Verlust des Rügerechts bei Verfahrensmängeln
Leitsatz (NV)
1. Das Übergehen eines Antrags auf Zeugenvernehmung kann mit der Nichtzulassungsbeschwerde nicht mehr mit Erfolg gerügt werden, wenn der Beteiligte den Verfahrensmangel in der mündlichen Verhandlung vor dem FG nicht gerügt hat, obwohl der benannte Zeuge zum Termin nicht geladen und auch nicht anwesend war.
2. In der (erstmaligen) Verlesung eines Schriftstücks in der mündlichen Verhandlung vor dem FG liegt i. d. R. keine Verletzung des rechtlichen Gehörs des Beteiligten.
Normenkette
FGO § 115 Abs. 2 Nr. 3, §§ 155, 96 Abs. 2; ZPO § 295 Abs. 1; GG Art. 103 Abs. 1
Tatbestand
Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) stützt seine Nichtzulassungsbeschwerde gegen das Urteil des Finanzgerichts (FG) auf Verfahrensmängel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Er rügt eine Verletzung der dem FG obliegenden Verpflichtung zur Ermittlung des Sachverhalts (§ 76 Abs. 1 FGO), weil dieses einen von ihm benannten Zeugen, den Bankangestellten S, nicht vernommen hat. Das FG ist in der Vorentscheidung aufgrund der Zahlungen, die in dem maßgebenden Zeitraum (Mai bis Juli 1982) über das Bankkonto der vom Kläger vertretenen KG abgewickelt worden sind, und einer vom Beklagten und Beschwerdegegner (Finanzamt - FA -) eingeholten Auskunft der Bank davon ausgegangen, daß zu den jeweiligen Fälligkeitszeitpunkten der mit dem Haftungsbescheid geltend gemachten Steuern die der KG eingeräumten Kreditlinien noch nicht erschöpft oder bereits gekündigt gewesen seien. Es hat deshalb auf die Vernehmung des Zeugen S, den der Kläger zu dem Beweisthema benannt hatte, daß keine freien Kreditlinien mehr bestanden hätten, verzichtet. Der Kläger sieht ferner in der Tatsache, daß das vorbezeichnete Schreiben der Bank vom 13. Juni 1983 erst in der mündlichen Verhandlung verlesen worden ist, eine Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes - GG -, § 96 Abs. 2 FGO), da er nicht mehr in der Lage gewesen sei, den Zeugen S aufzufordern, zum Inhalt des Schreibens Stellung zu nehmen.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde hat keinen Erfolg.
Der vom Kläger gerügte Verfahrensfehler der mangelnden Sachaufklärung - Nichtvernehmung des Zeugen S - (§ 76 Abs. 1 FGO) führt nicht zur Zulassung der Revision gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO, da der Mangel im vorliegenden Beschwerdeverfahren nicht mehr geltend gemacht werden kann. Die daneben erhobene Rüge der Verletzung rechtlichen Gehörs ist nicht begründet.
1. Ein Verfahrensmangel kann nicht mehr mit Erfolg geltend gemacht werden, wenn er eine Verfahrensvorschrift betrifft, auf deren Beachtung die Prozeßbeteiligten verzichten können und verzichtet haben (§ 155 FGO i. V. m. § 295 der Zivilprozeßordnung - ZPO -). Zu diesen verzichtbaren Mängeln gehört auch das Übergehen eines Beweisantrages, wie die im Streitfall beantragte Zeugenvernehmung (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 18. April 1972 VIII R 40/66, BFHE 105, 325, BStBl II 1972, 572; Urteil des Bundesverwaltungsgerichts - BVerwG - vom 12. Juli 1978 6 B 81/78, Steuerrechtsprechung in Karteiform - StRK -, Finanzgerichtsordnung, § 115, Rechtsspruch 202; Gräber / Ruban, Finanzgerichtsordnung, 2. Aufl., § 115 Rz. 37). Bei verzichtbaren Verfahrensmängeln geht das Rügerecht nicht nur durch eine ausdrückliche oder konkludente Verzichtserklärung gegenüber dem FG verloren, sondern auch durch das bloße Unterlassen einer rechtzeitigen Rüge; ein Verzichtswille ist dafür nicht erforderlich. Der Verfahrensmangel muß in der nächsten mündlichen Verhandlung gerügt werden, in der der Rügeberechtigte erschienen ist; verhandelt er zur Sache, ohne den Verfahrensmangel zu rügen, obwohl er den Mangel kannte oder kennen mußte, verliert er das Rügerecht (§ 295 Abs. 1 ZPO). Die ,,nächste" mündliche Verhandlung kann auch die sich unmittelbar an die Beweisaufnahme bzw. den Verfahrensfehler anschließende Verhandlung sein (vgl. Gräber / Ruban, a. a. O., § 115 Rz. 38, m. w. N.; Herrmann, Die Zulassung der Revision und die Nichtzulassungsbeschwerde im Steuerprozeß, Rz. 194).
Der Kläger hat mit Schriftsatz an das FG . . . beantragt, den ehemaligen Kreditvorstand der Bank, S, als Zeugen zu den Kreditlinien zu vernehmen, die der KG zum Zeitpunkt der Fälligkeit der Haftungsschulden eingeräumt waren. Der Zeuge S ist aber zu der - späteren - mündlichen Verhandlung vor dem FG nicht geladen worden und ausweislich des Sitzungsprotokolls dort auch nicht erschienen. Nach dem Protokoll über die mündliche Verhandlung haben der persönlich anwesende Kläger und sein Prozeßbevollmächtigter zur Sache verhandelt. Nachdem die übrigen geladenen Zeugen entlassen worden waren, die Anfrage des FA bei der Bank und deren Antwortschreiben verlesen worden war, die Streitsache mit den Beteiligten erörtert worden war und diese ihre Anträge gestellt hatten, hat der Vorsitzende die mündliche Verhandlung geschlossen und dann den Beschluß verkündet, eine Entscheidung werde den Beteiligten zugestellt.
Nach dem Sitzungsprotokoll hat der Kläger demnach das Übergehen seines Beweisantrages hinsichtlich des Zeugen S in der mündlichen Verhandlung nicht gerügt. Zu einer derartigen Rüge wäre aber, wenn der Kläger auf die beantragte Zeugenvernehmung nicht verzichten wollte, Anlaß gewesen, da der Zeuge zum Termin nicht geladen war und das dort verlesene Schreiben der Bank zu der Kreditsituation der KG von dem Tatsachenvortrag des Klägers, zu dem der Zeuge benannt worden war, abwich. Der Kläger konnte und mußte davon ausgehen, daß das FG dem Beweisantrag nicht nachkommen werde, und durfte unter diesen Umständen nicht weiter zur Sache verhandeln. Insbesondere, nachdem der Vorsitzende die mündliche Verhandlung geschlossen und den Beschluß verkündet hatte, daß eine Entscheidung den Beteiligten zugestellt werde, mußte er annehmen, daß das FG im unmittelbaren Anschluß an die mündliche Verhandlung - wie geschehen - durch Urteil entscheiden werde. Von der fortbestehenden Möglichkeit, noch nach Schluß der mündlichen Verhandlung, jedoch vor Zustellung des Urteils, durch einen nachgereichten Schriftsatz den Verfahrensmangel des Übergehens des Beweisantrags zu rügen (vgl. BFH-Urteil vom 5. Oktober 1967 V B 29/67, BFHE 90, 452, BStBl II 1968, 179), hat der Kläger keinen Gebrauch gemacht. Im übrigen reichen die Ausführungen in der Beschwerdeschrift des Klägers nicht aus, um daraus entnehmen zu können, daß er den Verfahrensmangel in der mündlichen Verhandlung gerügt hat. Zur Bezeichnung des Verfahrensmangels i. S. des § 115 Abs. 3 Satz 3 FGO wäre das aber erforderlich gewesen. Es fehlt also an der schlüssigen Darlegung des Verfahrensmangels. Sein Schweigen zu dem behaupteten Verfahrensmangel in der Vorinstanz steht einem Rügeverzicht gleich (BVerfG-Urteil in StRK, Finanzgerichtsordnung, § 115, Rechtsspruch 202; Beschluß des Senats vom 31. Januar 1989 VII B 162/88, BFHE 155, 498, BStBl II 1989, 372).
Dem Verlust des Rügerechts steht nicht entgegen, daß das FG im Termin zur mündlichen Verhandlung über den Beweisantritt des Klägers nicht durch einen ausdrücklichen Beschluß entschieden hat. Nach § 82 FGO i. V. m. § 358 ZPO ist ein Beweisbeschluß nur dann erforderlich, wenn die Beweisaufnahme ein besonderes Verfahren erfordert. Das ist dann nicht der Fall, wenn das FG - wie im Streitfall - die Beweisaufnahme nicht für erforderlich hält. Die Zurückweisung des Beweisantrages bedarf keines besonderen Beschlusses. Das FG war vielmehr befugt, das Absehen von der Beweisaufnahme in dem Urteil selbst zu begründen. Der Kläger hätte einen darin liegenden etwaigen Verfahrensmangel vor Abschluß des erstinstanzlichen Verfahrens rügen müssen. Da der Mangel nicht rechtzeitig gerügt worden ist, gilt er als geheilt; er kann im Beschwerdeverfahren nicht mehr berücksichtigt werden.
2. In der Tatsache, daß das Schreiben der Bank vom . . . , auf das die Vorentscheidung (auch) gestützt ist, erst in der mündlichen Verhandlung vorgelesen worden ist, liegt kein die Zulassung der Revision begründender Verfahrensmangel. Es ist im allgemeinen ausreichend, daß entscheidungserhebliche Tatsachen erst in der mündlichen Verhandlung vor dem Tatsachengericht in das Verfahren eingebracht werden. Eine Verletzung rechtlichen Gehörs liegt nicht vor, weil der Kläger und sein Prozeßbevollmächtigter in der Lage waren, sich nach dessen Verlesung zu dem Inhalt des Schreibens zu äußern (vgl. § 96 Abs. 2 FGO); das gilt um so mehr, als der Inhalt des Schreibens der Bank - wie die Beschwerde selbst ausführt - bereits in der Einspruchsentscheidung des FA wiedergegeben war. Der Kläger hätte in der mündlichen Verhandlung zumindest aus seiner Sicht zur inhaltlichen Richtigkeit des Schreibens Stellung nehmen können; er brauchte sich nicht auf die Erklärung zu beschränken, daß eine Stellungnahme zum Schreiben der Bank nicht möglich sei. Wenn er es für notwendig hielt, den Zeugen S zu dem Inhalt des Schreibens der Bank Stellung nehmen zu lassen, so hätte er auf einer Vertagung des Verfahrens zum Zwecke der Ladung und Vernehmung des Zeugen bestehen müssen. Es ist aber weder aus dem Sitzungsprotokoll noch aus der Beschwerdeschrift des Klägers ersichtlich, daß er in der mündlichen Verhandlung die Anberaumung eines neuen Verhandlungstermins zum Zwecke der Vernehmung des Zeugen S verlangt hat.
Fundstellen
Haufe-Index 418035 |
BFH/NV 1992, 603 |