Leitsatz (amtlich)
Der Umstand, daß im Verfahren über einen nach § 69 Abs. 3 FGO gestellten Antrag auf Aussetzung der Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsaktes die Sach- und Rechtslage nur summarisch geprüft werden muß, kann es grundsätzlich nicht rechtfertigen, in diesem Verfahren den verfassungsrechtlichen Anspruch auf rechtliches Gehör einzuschränken oder gar zu versagen.
Normenkette
GG Art. 103 Abs. 1; FGO § 69 Abs. 3
Tatbestand
Die Antragstellerin und Beschwerdeführerin (Antragstellerin) bat das FG durch Schriftsatz vom 31. Mai 1975, die Vollziehung des Mineralölsteuerbescheides des Antragsgegners und Beschwerdegegners (HZA) vom 27. März 1975 nach § 69 Abs. 3 FGO auszusetzen. Zur Begründung trug sie vor: In dem ihr bewilligten Heizölverteilerverkehr habe sie in den Jahren 1971 bis 1974 etwa 26 Mio. 1 Heizöl umgesetzt. Bei einer Bestandsaufnahme habe das HZA in bezug auf den Zugang eine Fehlmenge von 129 610 1 = 0,465 v. H. festgestellt, Davon habe es nur 27 868 1 = 0,1 v. H. als Substanzverlust angesehen. Für die restliche Fehlmenge von 101 742 1 = 0,365 v. H. habe es durch den erwähnten Bescheid die Mineralölsteuer nachgefordert. An der Rechtmäßigkeit des durch Einspruch angefochtenen Bescheides bestünden ernstliche Zweifel im Sinne des § 69 FGO, insbesondere deshalb, weil das HZA die Ursachen, die eine Fehlmenge erklären könnten, zum großten Teil außer acht gelassen und im übrigen unzulänglich beurteilt habe.
Das HZA widersprach dem Aussetzungsantrag durch einen Schriftsatz vom 16. Juni 1975.
Das FG lehnte die Aussetzung durch Beschluß vom 25. Juli 1975 ab. Am Ende der Darstellung des Sachverhalts führte es aus: Das HZA trage vor, ernstliche Zweifel bestünden nicht, und beantrage, dem Aussetzungsantrag nicht zu entsprechen. Auf das Vorbringen der Beteiligten im einzelnen werde Bezug genommen. Zur Begründung seiner Entscheidung erklärte das FG: Die von der Antragstellerin vorgetragenen Gesichtspunkte seien allgemeiner Art, die zwangsläufig bei jedem oder zumindest fast jedem Heizölverteilerlager aufträten. Es seien keine Gesichtspunkte vorgetragen oder ersichtlich dafür, daß besondere Verhältnisse vorgelegen hätten, die die Annahme rechtfertigen könnten, es seien zwangsläufig höhere Verluste eingetreten als bei den früheren Bestandsaufnahmen, bei denen nach Angabe des HZA Fehlmengen von 0,039 bzw. 0,046 v. H. festgestellt worden seien. Deshalb seien Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Steuerbescheides kaum zu erkennen, zumindest seien sie keineswegs ernstlich. Es sei nicht zu beanstanden, daß das HZA die steuerfrei zu belassenden Verluste geschätzt habe. Abgesehen davon, daß das Gericht eine derartige Schätzung nur im Rahmen des § 102 FGO auf eine Ermessensüberschreitung nachprüfen könne, ergebe sich hier aus einem Vergleich mit den Verlusten aus früheren Bestandsaufnahmen, daß auch insoweit keine ernstlichen Bedenken bestünden, wenn das HZA einen Verlust von 0,1 v. H. des Gesamtzugangs angenommen habe.
Am 6. August 1975 wurden diese Entscheidung und die Durchschriften des Schriftsatzes des HZA vom 16. Juni 1975 der Antragstellerin zugestellt.
Mit der am 15. August 1975 erhobenen Beschwerde rügt diese: Das FG habe ihren Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt, indem es das Vorbringen des HZA in dessen Schriftsatz vom 16. Juni 1975 seiner Entscheidung zugrunde gelegt habe, ohne ihr vorher Gelegenheit zu einer Stellungnahme gegeben zu haben. Das Verhalten des FG begründe berechtigtes Mißtrauen gegen die Unparteilichkeit der beteiligten Richter. Sie beantrage daher, den Beschluß des FG aufzuheben und die Vollziehung des Steuerbescheides bis zur rechtskräftigen Entscheidung im Verfahren über die Hauptsache auszusetzen; hilfsweise, die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an einen anderen Senat des FG zurückzuverweisen.
Das HZA beantragt, die Beschwerde als unbegründet zurückzuweisen. Es führt aus: Das FG sei bei seinen Erwägungen erkennbar nur auf die ausführliche Antragsbegründung eingegangen und habe in der Sachdarstellung von der Antragserwiderung nur den Gegenantrag erwähnt. Es sei ersichtlich, daß die Antragserwiderung für die Entscheidung ohne besondere Bedeutung gewesen sei. Deshalb sei es als unschädlich zu erachten, daß die Antragserwiderung der Antragstellerin nicht vor der Entscheidung bekanntgegeben worden sei. Nach Hübschmann-Hepp-Spitaler, Kommentar zur Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 69 FGO Anm. 31, und Ziemer-Haarmann, Einspruch, Beschwerde und Klage in Steuersachen, Tz. 601, sei es im Aussetzungsverfahren nicht in allen Fällen erforderlich, rechtliches Gehör zu gewähren. Die Antragstellerin übersehe im übrigen, daß im Aussetzungsverfahren der Sachverhalt nur in einem beschränkten Umfang zu prüfen sei (Beschluß des BFH vom 22. September 1967 VI B 59/67, BFHE 90, 253, BStBl II 1968, 37).
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist zulässig und begründet.
Das FG hat durch den angefochtenen Beschluß Art. 103 Abs. 1 GG verletzt, wonach vor Gericht jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör hat. Dieser Anspruch besteht im wesentlichen darin, daß den an einem gerichtlichen Verfahren Beteiligten Gelegenheit gegeben werden muß, sich zu den Tatsachen und Beweisergebnissen, die der gerichtlichen Entscheidung zugrunde gelegt werden sollen, vorher zu äußern (vgl. Beschlüsse des BVerfG vom 11. Oktober 1966 2 BvR 252/66, BVerfGE 20, 280, 282, und vom 14. Januar 1969 2 BvR 314/68, BVerf-GE 25, 40, 43; BFH-Urteil vom 26. Oktober 1970 III R 122/66, BFHE 101, 49, BStBl II 1971, 201, 203). Art. 103 Abs. 1 GG gilt als Verfassungsvorschrift unmittelbar für jedes Gericht und enthält keine Beschränkung des Anspruchs auf rechtliches Gehör auf bestimmte Verfahrensarten des Gerichts (vgl. BVerfG-Beschluß vom 18. Juni 1957 1 BvR 41/57, BVerfGE 7, 53, 56). Die Bestimmung des § 96 Abs. 2 FGO, daß das über eine Klage entscheidende Urteil des FG nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden darf, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten, hat gegenüber Art. 103 Abs. 1 GG keine eigenständige Bedeutung, da sie für das Klageverfahren des FG nur das wiederholt, was ohnehin nach der Verfassungsvorschrift bereits gilt. Es ist deshalb unerheblich, daß sie nicht in § 113 Abs. 1 FGO mit denjenigen Vorschriften erwähnt worden ist, die für Beschlüsse sinngemäß gelten (vgl. Entscheidungen des BVerfG vom 25. Oktober 1956 1 BvR 440/54, BVerfGE 6, 14; vom 24. Juli 1957 1 BvR 535/53, BVerfGE 7, 95, 98; vom 28. Oktober 1958 1 BvR 5/58, BVerfGE 8, 253, 255; vom 8. Januar 1959 1 BvR 396/55, BVerfGE 9, 89, 96; Tipke-Kruse, Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Kommentar, 7. Aufl., § 96 FGO, Rdnr. 19 c; § 113 FGO Anm. Abs. 2; Hübschmann-Hepp-Spitaler, a. a. O., § 113 FGO, Rdnr. 4; Kühn-Kutter, Reichsabgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, 11. Aufl., § 113 FGO Anm. 1; Ziemer-Birkholz, Finanzgerichtsordnung, 2. Aufl., § 113 Rdnr. 1). Dabei ist auch zu bedenken, daß § 113 FGO das Beschlußverfahren ohnehin nur unvollständig regelt.
Der Umstand, daß im Verfahren über einen nach § 69 Abs. 3 FGO gestellten Antrag auf Aussetzung der Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsaktes die Sach- und Rechtslage nur summarisch geprüft werden muß, kann es grundsätzlich nicht rechtfertigen, in diesem Verfahren den verfassungsrechtlichen Anspruch auf rechtliches Gehör einzuschränken oder gar zu versagen. Denn das Recht aus Art. 103 Abs. 1 GG ist von der Ausgestaltung des Verfahrens durch die verschiedenen Verfahrensordnungen unabhängig (BVerfGE 7, 53, 57). Ob in ganz besonders gelagerten Einzelfällen, z. B. wegen des Erfordernisses einer sofortigen Entscheidung über die Aussetzung der Vollziehung, eine Ausnahme gemacht werden kann, braucht der Senat im vorliegenden Falle nicht zu entscheiden, da eine besondere Eilbedürftigkeit nicht erkennbar ist.
Das FG hat den Anspruch der Antragstellerin auf rechtliches Gehör verletzt, weil es den Schriftsatz des HZA vom 16. Juni 1975 seiner Entscheidung zugrunde legte, ohne der Antragstellerin Gelegenheit gegeben zu haben, sich vorher zu dessen Inhalt zu äußern. Daß der Schriftsatz Grundlage der Entscheidung wurde, ergibt sich schon daraus, daß das HZA nur mit diesem Schriftsatz sich zu dem Anliegen der Antragstellerin geäußert hatte und das FG bei der Darstellung des Sachverhalts in seinem Beschluß das Vorbringen des HZA erwähnte. Es kommt hinzu, daß das FG in der Begründung des Beschlusses gegen die Antragstellerin die vom HZA vorgetragene Behauptung verwertete, bei früheren Bestandsaufnahmen habe die Fehlmenge 0,039 bzw. 0,046 v. H. betragen.
Für den Fall, daß das FG im Klageverfahren einem Beteiligten das rechtliche Gehör versagt hat, bestimmt § 119 Nr. 4 FGO, daß ein daraufhin ergangenes Urteil ohne weiteres als auf der Verletzung von Bundesrecht beruhend anzusehen ist. Das zeigt, daß der Gesetzgeber die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör als einen bsonders schwerwiegenden Verfahrensfehler ansieht, der allein schon die Aufhebung des Urteils rechtfertigt. Das muß auch für das Beschlußverfahren gelten.
Der BFH ist nach §§ 132, 155 FGO in Verbindung mit § 575 ZPO befugt, die Sache an das FG zurückzuverweisen (vgl. Beschluß vom 6. Oktober 1967 III B 56/67, BFHE 90, 284, BStBl II 1968, 65). Von dieser Möglichkeit macht der Senat Gebrauch. Der dem FG unterlaufene Verfahrensfehler macht es nicht erforderlich, die Sache nach § 155 FGO in Verbindung mit § 565 Abs. 1 Satz 2 und § 575 ZPO an einen anderen als den bisher mit der Sache befaßt gewesenen Senat des FG zurückzuverweisen.
Bei der erneuten Entscheidung über die Sache wird das FG beachten müssen, daß die Schätzung der Besteuerungsgrundlagen nach § 217 AO keine Ermessensentscheidung ist und daß es selbst bei Feststellung der tatsächlichen Verhältnisse und damit auch der Besteuerungsgrundlagen nach § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO die Schätzungsvorschriften des § 217 AO anzuwenden hat.
Fundstellen
Haufe-Index 71614 |
BStBl II 1976, 437 |
BFHE 1976, 291 |