Entscheidungsstichwort (Thema)
Sachaufklärungspflicht
Leitsatz (NV)
Eine weitere Sachverhaltsaufklärung muss sich dem FG auch ohne Antrag dann aufdrängen, wenn das FG seinem Urteil einen Geschehensablauf zugrunde legt, der unter Berücksichtigung der Lebenserfahrung als ungewöhnlich erscheint und nach Aktenlage Anlass zu der Annahme besteht, dass der vom FG angenommene Sachverhalt sich so nicht abgespielt hat.
Normenkette
FGO § 76 Abs. 1
Verfahrensgang
FG des Landes Brandenburg (Urteil vom 09.05.2006; Aktenzeichen 3 K 343/03) |
Tatbestand
I. Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) betrieb im Streitjahr 1990 ein Einzelunternehmen mit dem Geschäftsgegenstand …installation. In seinen zu den Stichtagen 1. Juli 1990 und 31. Dezember 1990 aufgestellten Bilanzen wies er jeweils in exakt gleicher Höhe einen Warenbestand mit 694 426,60 DM aus. Er erklärte einen Verlust aus Gewerbebetrieb von 9 528,11 DM. Dieser setzt sich zusammen aus sonstigen betrieblichen Erträgen von 703,09 DM und Betriebsausgaben von 10 231,20 DM. Ein Wareneinsatz ist darin nicht enthalten.
Im Rahmen einer Außenprüfung wurde festgestellt, dass der Kläger seiner Pflicht, eine Inventur und eine Bewertung der Warenbestände zum 30. Juni 1990 in Mark der DDR (im Folgenden: M) vorzunehmen, nicht nachgekommen war. Er hatte lediglich eine Inventur zum 31. Dezember 1990 durchgeführt und den zu diesem Stichtag ermittelten Wertansatz gleichzeitig der DM-Eröffnungsbilanz zugrunde gelegt. Warenein- und -ausgänge hatte der Kläger im Jahr 1990 nicht berücksichtigt.
Der Außenprüfer verminderte (zunächst für das Jahr 1990 erfolgsneutral) den Wertansatz für den Warenbestand zu den Stichtagen 30. Juni 1990 und 31. Dezember 1990 um jeweils 80 000 DM. Maßgebend hierfür war die Überlegung, dass der Kläger am 3. September 1990 Warenumsätze an die B-GmbH getätigt hatte, deren Gesellschafter-Geschäftsführer er zu einem späteren Zeitpunkt wurde. Da diese Waren zu geringeren als in der Inventur bewerteten Preisen an die B-GmbH veräußert wurden, ging der Prüfer davon aus, der vom Absatzmarkt abgeleitete beizulegende Wert (Zeitwert) der Waren sei geringer als deren Wiederbeschaffungs- bzw. Wiederherstellungskosten. Infolge anderer, vorliegend nicht streitiger Gewinnänderungen führte die Außenprüfung zu dem Ergebnis, dass der Kläger in 1990 einen Gewinn von 2 580,40 DM erzielt hat.
Am 23. Dezember 1990 erließ der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--) einen geänderten Bescheid über die zusammengefasste Steuerrate 1990. Diesem Bescheid legte es einen Gewinn von 126 772 DM zugrunde. Hierbei ging es davon aus, dass es sich bei einer im Rahmen des Warenbestands zu den o.g. Bilanzstichtagen berücksichtigten Wareneinkaufsrechnung über den Gesamtbetrag von 136 307,06 DM um eine Scheinrechnung handelt, weil der Rechnungsaussteller X nicht ermittelt werden konnte. Das FA erhöhte deshalb den Gewinn um diesen Betrag. Diesen Mehrbetrag rechnete das FA jedoch versehentlich dem vom Kläger erklärten Gewinn und nicht dem Gewinn hinzu, der sich aufgrund der Außenprüfung ergeben hatte. Dies sowie ein Rechenfehler (insgesamt: 12 115 DM) führten zu dem angesetzten Gewinn von 126 772 DM.
In seiner Einspruchsentscheidung vom 23. Januar 2003 führte das FA nach vorheriger Ankündigung eine Verböserung durch. Das FA ging nunmehr von im Jahr 1990 erzielten gewerblichen Einkünften in Höhe von 198 459 DM aus. Den im Bescheid vom 23. Dezember 1990 angesetzten Gewinn von 126 772 DM erhöhte es wegen im Jahr 1990 erfolgter Leistungen des Klägers von 154 840,50 DM, die bisher nicht dem Jahr der Rechnungserstellung, sondern dem Zuflussjahr 1991 zugeordnet worden waren. Gleichzeitig machte das FA die gewinnerhöhende Berücksichtigung der Rechnung X über 136 308 DM wieder rückgängig. Gewinnerhöhend setzte das FA aber den beim Warenbestand vorgenommenen Wertabschlag mit 80 000 DM an. Ferner korrigierte das FA gewinnerhöhend den o.g. Übertragungsfehler mit 12 115 DM. Nach Abzug der Gewerbesteuerrückstellung von 38 960 DM ergab sich der vom FA angesetzte Gewinn mit 198 459 DM.
Im Verlauf des sich anschließenden Klageverfahrens erließ das FA den geänderten Bescheid für 1990 vom 17. Dezember 2004. Diesem legte es einen Gewinn aus Gewerbebetrieb von 130 015 DM zugrunde. Hierbei erkannte das FA einen im Juli 1990 getätigten Wareneinkauf über 2 124 DM als Betriebsausgabe an. Auch machte das FA den in der Einspruchsentscheidung gewinnerhöhend berücksichtigten Wertabschlag von 80 000 DM rückgängig. Unter Berücksichtigung einer verminderten Gewerbesteuerrückstellung ergab sich der vom FA angesetzte Gewinn.
Mit seiner Klage macht der Kläger geltend, das FA habe mehrere im Streitjahr erfolgte Wareneinkäufe nicht beim Wareneinsatz berücksichtigt. Von der Firma Z gelieferte Waren seien ebenso wie die Lieferungen des X beim Wareneinsatz zu berücksichtigen. Zwar seien die Rechnungen jeweils vor dem 1. Juli 1990 ausgestellt worden, die Waren seien aber tatsächlich erst im 2. Halbjahr 1990 geliefert worden.
Das Finanzgericht (FG) hat die Klage abgewiesen. Im Streitfall lasse sich insbesondere kein gewinnmindernder Wareneinsatz im 2. Halbjahr 1990 feststellen. Denn es sei nicht nachgewiesen, dass die vom Kläger genannten Wareneinkäufe erst nach dem 30. Juni 1990 erfolgt seien. Es sei bereits zweifelhaft, ob die Lieferungen das Einzelunternehmen des Klägers beträfen. Auch stehe selbst nach der durchgeführten Vernehmung eines Zeugen nicht fest, wann und in welchem Umfang die streitigen Lieferungen erfolgt seien.
Mit seiner gegen die Nichtzulassung der Revision eingelegten Beschwerde macht der Kläger u.a. geltend, das angefochtene Urteil beruhe auf dem Verfahrensmangel der mangelnden Sachaufklärung gemäß § 76 der Finanzgerichtsordnung (FGO). Denn das FG habe den entscheidenden Punkt, in welchem Umfang im Streitjahr ein Wareneinsatz vorgelegen habe, nicht (vollständig) aufgeklärt. Das FG habe zwar festgestellt, dass das FA in seiner Einspruchsentscheidung für das Jahr 1990 gewinnerhöhend Rechnungen des Klägers von 154 840,50 DM berücksichtigt habe. Umgekehrt habe das FG aber festgestellt, ein gewinnmindernder Wareneinsatz sei nicht erkennbar. Da ein solcher aber zwangsläufig dann gegeben sei, wenn der vom Kläger getätigte Umsatz auf einer Warenlieferung beruhe, was unstreitig der Fall gewesen sei, hätte das FG den Sachverhalt weiter aufklären müssen.
Der Kläger beantragt, die Revision gegen das angefochtene Urteil zuzulassen.
Das FA beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.
Ein Verfahrensfehler liege nicht vor. Insbesondere beruhe das angefochtene Urteil nicht auf einer Verletzung der Sachaufklärungspflicht. Der Kläger habe nicht nachgewiesen, dass er im 2. Halbjahr 1990 Wareneinkäufe über insgesamt 162 740 DM getätigt habe. Auch habe er nicht erklärt, der Warenbestand zum 31. Dezember 1990 sei niedriger als bisher angenommen. Für die Höhe des Wareneinsatzes sei aber der Kläger beweispflichtig.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde ist begründet. Der Kläger legt schlüssig einen Verfahrensmangel i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO dar. Ein solcher liegt auch tatsächlich vor.
1. Ein Verfahrensmangel ist anzunehmen, wenn das FG die ihm gemäß § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO obliegende Pflicht verletzt, den entscheidungserheblichen Sachverhalt von Amts wegen aufzuklären. Allerdings wird diese Aufklärungspflicht durch die Mitwirkungspflicht der Beteiligten (§ 76 Abs. 1 Satz 2 FGO) begrenzt. Kommen diese ihrer Mitwirkungspflicht nicht nach, reduziert sich die Ermittlungspflicht des FG. Stellen rechtskundig vertretene Beteiligte keine auf eine weitere Sachaufklärung gerichtete Anträge, kommt eine Verletzung der Sachaufklärungspflicht durch das FG regelmäßig nur in Betracht, wenn sich dem FG eine weitere Sachaufklärung auch ohne Antrag hätte aufdrängen müssen (ständige Rechtsprechung; vgl. z.B. Beschluss des Bundesfinanzhofs vom 8. September 2006 V B 126/05, BFH/NV 2006, 2300). Dies ist dann der Fall, wenn das FG seinem Urteil einen Geschehensverlauf zugrunde legt, der unter Berücksichtigung der Lebenserfahrung als ungewöhnlich erscheint und nach Aktenlage Anlass zur Annahme besteht, dass der vom FG angenommene Sachverhalt sich so nicht abgespielt hat. Dann muss das FG von Amts wegen hierzu weitere Ermittlungen anstellen.
Hiervon ist im Streitfall auszugehen. Es widerspricht regelmäßig der Lebenserfahrung, dass ein Gewerbetreibender, der Dritten gegenüber Handwerksleistungen erbringt, (nahezu) keinen damit verbundenen Wareneinsatz hat. Ein solcher Wareneinsatz kann nicht nur darauf beruhen, dass zur Verwendung bei Dritten bestimmte Wirtschaftsgüter zeitlich nach der Eröffnungsbilanz erworben werden und infolge der Übertragung des rechtlichen oder wirtschaftlichen Eigentums an den Waren auf Dritte noch vor dem Stichtag der Schlussbilanz wieder aus dem Betriebsvermögen des Gewerbetreibenden ausgeschieden sind. Ein --gewinnmindernder-- Wareneinsatz kann auch darauf beruhen, dass der Wertansatz des Warenbestands in der Schlussbilanz bei zutreffender Ermittlung denjenigen in der Anfangsbilanz unterschreitet.
Unter Beachtung dieser Grundsätze hätte das FG es nicht dabei bewenden lassen dürfen, den Einwänden des Klägers nachzugehen, er habe im 2. Halbjahr 1990 Waren erworben und noch vor dem 31. Dezember 1990 wieder veräußert. Vielmehr hätte sich dem FG aufdrängen müssen, die Richtigkeit des Bilanzansatzes des Warenbestands in den Bilanzen zum 1. Juli 1990 und zum 31. Dezember 1990 zu untersuchen. Hierzu bestand für das FG schon deshalb Anlass, weil die jeweiligen Bilanzpositionen den exakt gleichen Wert aufweisen, was bei einem aktiv tätigen Unternehmen regelmäßig nicht der Fall ist. Hierbei hätte das FG auch berücksichtigen müssen, dass ausweislich seiner eigenen Feststellungen (vgl. FG-Urteil, S. 2, Absätze 2 und 3) lediglich zum 31. Dezember 1990 eine Inventur durchgeführt und der sich hierbei ergebende Wertansatz auch in die Bilanz zum 1. Juli 1990 übernommen wurde. Auch hat das FG nicht berücksichtigt, dass ausweislich seiner eigenen Feststellungen im Rahmen der für das Streitjahr 1990 durchgeführten Betriebsprüfung der Warenbestand zum 30. Juni 1990 und zum 31. Dezember 1990 mit der Begründung abgewertet wurde, der Kläger habe am 3. September 1990 Waren zu einem unterhalb des Zeitwerts liegenden Preis an die B-GmbH geliefert (vgl. FG-Urteil, S. 2, Absatz 3). Hat der Kläger aber tatsächlich in dieser Zeit das Eigentum an diesen Waren an einen Dritten übertragen, dann durften diese Waren nicht mehr bei der Ermittlung des Warenbestands zum Jahresende 1990 berücksichtigt werden.
2. Der angerufene Senat hält es für angezeigt, nach § 116 Abs. 6 FGO zu verfahren, um dem FG die gebotenen Feststellungen zur Höhe des Warenbestands zum 1. Juli 1990 und zum 31. Dezember 1990 zu ermöglichen.
Fundstellen
Haufe-Index 1703539 |
BFH/NV 2007, 935 |