Entscheidungsstichwort (Thema)
Prozeßkostenhilfe bei Schätzungen
Leitsatz (NV)
1. Im Prozeßkostenhilfeverfahren (Gewinnschätzungen) können Beweismittel vorab gewürdigt werden.
2. Erfolgsaussichten lassen sich nicht aus dem Umstand herleiten, daß die Staatsanwaltschaft beschlagnahmte Belege nicht herausgibt, von denen der Steuerpflichtige vermutet, sie könnten die Schätzungslage zu seinen Gunsten beeinflussen.
Normenkette
FGO § 142; AO 1977 § 162
Tatbestand
Der Kläger, Antragsteller und Beschwerdeführer (Kläger) befaßte sich in den Streitjahren 1985 und 1986 mit dem Import und Export von Sportgeräten, Sportzubehör, Sportkleidung, Kraftnahrung und Nahrungsergänzungsmitteln. Nach der für 1985 vorgelegten Einnahmenüberschußrechnung erzielte er einen Gewinn von 4474 DM. Für 1986 hat er keine Steuererklärung abgegeben.
Nach einer Steuerfahndungsprüfung veranlagte der Beklagte (das Finanzamt - FA -) den Kläger zur Einkommensteuer 1985 und 1986 mit geschätzten Gewinnen von 107851 DM (1985) und 1290118 DM (1986). Die Steuerfahndungsbeamten hatten festgestellt, daß der Kläger in größerem Umfang muskelbildende Präparate (u.a. Anabolika), die im Inland verschreibungspflichtig waren, aus England importiert und im Inland im Versandhandel mit hohen Aufschlägen an Großabnehmer (z.B. Fitness-Center und Body-Building-Studios) und an Endabnehmer veräußert hatte. Er wurde 1988 wegen Verstoßes gegen das Arzneimittelgesetz verurteilt.
Der Kläger erhob nach erfolglosem Einspruch Klage, die bei dem Finanzgericht (FG) anhängig ist. Das FA erließ am 17. März 1993 Änderungsbescheide, die der Kläger - soweit seinem Begehren nicht entsprochen worden war - gemäß § 68 der Finanzgerichtsordnung (FGO) in der seit 1. Januar 1993 geltenden Fassung zum Gegenstand des Verfahrens machte. In den Änderungsbescheiden waren die Gewinne auf 76144 DM (1985) und 663822 DM (1986) ermäßigt worden. Ihnen liegt, soweit aus den Steuerakten ersichtlich, folgende Nachkalkulation zugrunde:
1985 1985/86 1986
DM DM DM
Wareneinkäufe
netto ...
./. Warenbestand ...
Wareneinsatz
netto ...
davon:
a) Zwischenhandel
(76 v.H.) ...
b) Endverbraucher
(24 v.H.) ...
Aufschlag zu a)
570 v.H. ...
Aufschlag zu b)
1066 v.H. ...
Bruttoverkaufserlöse ...
Warenverkauf ... ...
Privatanteile/
neutrale Erträge ... ...
Betriebs-
einnahmen ... ...
Betriebs-
ausgaben ... ...
Gewinne 76144 663822.
Dem Antrag des Klägers, ihm Prozeßkostenhilfe (PKH) zu gewähren, gab das FG teilweise statt, nämlich ab Antragstellung bis zum Erlaß der Änderungsbescheide zu 77,15 v.H. und für die Zeit danach zu 54,68 v.H. Es führte aus: Die Klage sei erfolgversprechend, soweit eine Herabsetzung der Gewinne lt. Änderungsbescheiden um 50 v.H. begehrt werde. Für 1986 lasse sich nach den Beweisangeboten des FA nicht von vornherein sagen, daß der vom FA zugrunde gelegte Gewinn von 663822 DM unrichtig sei. Die Behauptung des Klägers, er habe 1986 allenfalls einen Gewinn von 37827 DM erzielt, erscheine bereits nach Aktenlage widerlegt. Selbst der Kläger gehe in der Klageschrift von Betriebseinnahmen in Höhe von ca. 398000 DM aus, die auf den beiden Postgirokonten eingegangen sein sollen; daneben seien nach Angaben des Klägers auch Barverkäufe vorgekommen. Der vom Kläger über den FA-Ansatz hinaus begehrte Betriebsausgabenabzug (Lizenzgebühren, Werbeausgaben usw.) sei nicht glaubhaft gemacht worden. Für das Streitjahr 1985 gelte Entsprechendes.
Der Kläger macht mit der Beschwerde geltend: Das FG hätte nicht davon ausgehen dürfen, sein Vorbringen habe teilweise keine Aussicht auf Erfolg. Es hätte vielmehr unterstellen müssen, daß die Beweisaufnahme zu seinen, des Klägers, Gunsten ausgehen werde. Davon abgesehen, ergebe die Auswertung der Kontoauszüge, daß tatsächlich nur die von ihm behaupteten Umsätze erzielt worden seien. Das FG habe unberücksichtigt gelassen, daß ihm infolge der Beschlagnahme die wichtigsten Beweismittel nicht zugänglich seien; die Staatsanwaltschaft habe die Original-Postabschnitte zu einem großen Teil an andere Staatsanwaltschaften versandt und nicht mehr zurückerhalten. Ihm sei bisher keine Einsichtnahme in die Strafakten gewährt worden, so daß er nicht in der Lage sei, eine vollständige und zutreffende Buchführung zu erstellen und sich sachgemäß zu verteidigen. Ihm könne sonach auch nicht vorgehalten werden, er habe vage Angaben gemacht und seine Kosten nicht spezifiziert. Er gehe davon aus, daß sich in den beschlagnahmten Unterlagen Nachweise über weitere Betriebsausgaben befänden.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist unbegründet.
Es ist nicht zu beanstanden, daß das FG die bei ihm anhängige Klage nur insoweit für hinreichend erfolgversprechend gehalten hat (§ 142 FGO i.V.m. § 114 der Zivilprozeßordnung - ZPO -), als mit ihr eine Herabsetzung der geschätzten Gewinne lt. Änderungsbescheiden um 50 v.H. erstrebt wird. In Schätzungssachen, deren Ergebnis von der Gesamtwürdigung vieler Tatumstände abhängt, bietet eine Klage hinreichende Aussicht auf Erfolg, wenn und soweit bei summarischer Prüfung für die Sachdarstellung des Klägers nach den vorhandenen Unterlagen eine gewisse Wahrscheinlichkeit besteht (Beschlüsse des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 27. Augsut 1986 VIII B 84/85, BFH/NV 1987, 119; vom 6. Februar 1987 III B 169, 170/86, BFH/NV 1987, 322; vom 18. Januar 1988 X B 97/87, BFH/NV 1990, 153; vom 18. Mai 1988 X B 185/87, BFH/NV 1988, 731; vom 6. Februar 1991 X B 184/90, BFH/NV 1991, 405). Hat der Steuerpflichtige die ihm obliegenden Mitwirkungspflichten zur Aufklärung des Sachverhalts nicht erfüllt, kommt PKH regelmäßig nicht in Betracht (BFH, Beschlüsse vom 17. Juli 1989 X B 39/89, BFH/NV 1990, 551; vom 7. August 1990 X B 48, 49/90, BFH/NV 1991, 184). Entgegen der Auffassung des Klägers ist das FG nicht verpflichtet, unter Beweis gestellte Behauptungen in jedem Fall zugunsten des Antragstellers zu würdigen. Die summarische Prüfung kann sich auch auf die vorläufige Vorabwürdigung von Beweismitteln erstrecken.
Das FG hat diese Grundsätze beachtet. Es ist nach Abwägung des beiderseitigen Vorbringens und der dazu gemachten Beweisangebote zu der vertretbaren Gesamtwürdigung gelangt, daß eine Herabsetzung der Gewinne um mehr als 50 v.H. nicht wahrscheinlich ist. Der Kläger selbst hat die Nachkalkulation des FA als schlüssig bezeichnet. Er hat ihr eine eigene Nachkalkulation gegenübergestellt, die immerhin für 1986 zu Verkaufserlösen von 396831 DM kommt. Dabei hat er den Warenendbestand höher als das FA mit 36458 DM bemessen und einen Durchschnittsaufschlagsatz (gefunden aus mehreren Einzelaufschlagsätzen) von lediglich 450 v.H. angewandt. Das FA hat die Bestandsbewertung des Klägers und die von ihm angegebenen Aufschlagsätze substantiiert bestritten. Der Kläger erläutert nicht, wie er die Einzelaufschlagsätze, die von 248 v.H. bis 1013 v.H. (!) gehen sollen, gefunden hat und wie er zu dem Durchschnittssatz von 450 v.H. gelangt ist.Er will seine Erkenntnisse aus nachträglich beschafften Duplikaten der Postgiro-Kontoauszüge 1986 genommen haben; hieraus hat er offenbar Aufstellungen über die Gesamt-Zahlungseingänge 1986 und anderweitige Auszüge gefertigt. Weder die Kontoauszüge noch die Aufstellungen sind bisher vorgelegt worden. Er hat auch nicht angegeben, in welcher Höhe die von ihm eingeräumten Barverkäufe angefallen sind. Das FG hat aus einer Abwägung dieser Umstände ohne Rechtsfehler herleiten können, daß die Nachkalkulation lt. Änderungsbescheiden in einem beachtlichen Umfang Bestand haben dürfte. Unter Berücksichtigung des summarischen Charakters des PKH-Verfahrens ist die Annahme nicht zu beanstanden, daß überschlägig - auch unter Einbeziehung der Betriebsausgaben - eine Herabsetzung der Gewinne um allenfalls 50 v.H. in Betracht kommt. Als zusätzliche Betriebsausgaben hat der Kläger insbesondere Lizenzzahlungen von 174000 DM an den englischen Lieferanten geltend gemacht. Hierzu ist zwar eine Zahlungsbestätigung der ...Limited vom 3. März 1989 vorgelegt worden. Im Hinblick auf § 90 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) werden jedoch weitere Erläuterungen erforderlich sein (Vertragsgrundlage, Zahlungsweg), wenn ein Betriebsausgabenabzug gerechtfertigt sein soll.
Der Standpunkt des FG wird durch die folgenden Umstände gestützt: Das in Abschrift bei den FG-Akten befindliche Urteil des Amtsgerichts ... vom 7. November 1991 hat nach abschließender Würdigung auch der hier maßgeblichen Umstände eine Umsatzsteuerhinterziehung des Klägers für die Voranmeldungszeiträume I bis III/1986 bejaht; es ist davon ausgegangen, daß der Kläger 1986 Nettoumsätze in Höhe von mindestens 768000 DM erzielt hat. Ferner enthält die oben wiedergegebene Kalkulation des FA lt. Änderungsbescheiden einen Denk- und einen Rechenfehler, die sich zugunsten des Klägers ausgewirkt haben. Werden Umsätze mit Hilfe eines Aufschlagsatzes auf Wareneinsätze ermittelt, erhöht auch der Wareneinsatz den Umsatz; das FA hat hingegen lediglich den Umsatzteil erfaßt, der auf die Aufschläge entfällt. Bei der Aufteilung der kalkulierten Bruttoverkaufserlöse 1985/1986 auf die beiden Streitjahre ist ein Betrag von 1140 DM unerfaßt geblieben.
Keine andere Beurteilung rechtfertigt das Vorbringen des Klägers, eine wirksame Entgegnung auf die Nachkalkulation des FA - insbesondere durch die Erstellung seiner vollständigen und zutreffenden Buchführung - sei ihm unmöglich, solange ihm die Staatsanwaltschaft die Einsichtnahme in die beschlagnahmten Belege verweigere. Die Schätzungsbefugnis des FA wird durch die nachträgliche Erstellung einer Buchführung nicht hinfällig. Nur die Vorlage zeitgerechter Aufzeichnungen (§ 146 Abs. 1 Satz 1 AO 1977) würde einer Schätzung entgegenstehen können (Umkehrschluß aus § 162 Abs. 2 Satz 2 AO 1977). Der Kläger, der seinen Gewinn nach § 4 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) ermittelte, war verpflichtet, zeitgerecht die Betriebseinnahmen und die Wareneinkäufe aufzuzeichnen (BFH-Urteil vom 2. März 1982 VIII R 225/80, BFHE 136, 28, BStBl II 1984, 504). Dieser Verpflichtung ist er nur unvollständig nachgekommen. Dem Kläger bleibt es unbenommen, Belege - seien sie beschlagnahmt oder in seinem Verfügungsbereich - in das Verfahren einzuführen, um z.B. niedrigere Aufschlagsätze, als vom FG angenommen, nachzuweisen. Erwartet sich der Kläger von beschlagnahmten, aber vorerst nicht zugänglichen Belegen ein solches Beweismittel, wird das finanzgerichtliche Verfahren nicht abgeschlossen werden dürfen, bevor ihm die Belege zugänglich sind. Derartige Erwartungen sind indessen im PKH-Verfahren nicht geeignet, Erfolgsaussichten zu bejahen. Die hierin liegenden Unsicherheitsfaktoren unterliegen ebenfalls der Gesamtwürdigung des FG. Die 50 v.H.-Würdigung des FG wird auch insoweit den Belangen des Klägers gerecht.
Obwohl bisher nicht angesprochen, weist der Senat ohne Bindung für die Vorinstanz auf folgendes hin: Sollte der Vortrag des Klägers in der Klageschrift zutreffend sein, daß sein Betrieb mit der Beschlagnahme der letzten Lieferung durch die Staatsanwaltschaft und die Zollfahndung am 6. Dezember 1986 zum Erliegen kam, wäre für diesen Tag eine Betriebsaufgabe anzunehmen (dazu BFH-Urteil vom 3. Juli 1991 X R 163, 164/87, BFHE 164, 556, 561, BStBl II 1991, 802). Die Betriebsaufgabe bedingt einen Übergang von der Gewinnermittlung durch Einnahmenüberschußrechnung (§ 4 Abs. 3 EStG) zur Gewinnermittlung durch Bestandsvergleich (§ 5, § 4 Abs. 1 EStG). Es wäre einerseits ein eventueller Übergangsgewinn(-verlust) zu berücksichtigen. Andererseits könnten die Betriebssteuernachforderungen des FA bereits für 1986 gewinnmindernd in einer Rückstellung eingestellt werden.
Fundstellen
Haufe-Index 65045 |
BFH/NV 1994, 608 |