Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensrecht/Abgabenordnung
Leitsatz (amtlich)
Die Grundsätze, die die Rechtsprechung über die Nachsichtgewährung bei solchen Fristversäumungen entwickelt hat, die trotz eines ordnungsmäßig organisierten Büros von Angestellten eines Angehörigen der steuerberatenden Berufe verschuldet werden, sind bei Fristversäumungen des Steuerpflichtigen oder des Vorstehers des Finanzamts nicht anwendbar.
Normenkette
AO § 86
Tatbestand
Der in der Gewerbesteuersache 1956 ergangene und zur Veröffentlichung als Urteil bestimmte Bescheid I 63/60 S vom 2. Mai 1961 - BStBl 1961 III S. 537 - (ß 294 Abs. 2 AO) wurde dem Vorsteher des Finanzamts mit Postzustellungsurkunde am Mittwoch, dem 19. Juli 1961, zugestellt, so daß die zweiwöchentliche Frist für den Antrag auf mündliche Verhandlung für den Vorsteher des Finanzamts am Mittwoch, dem 2. August 1961, um 24.00 Uhr ablief. Der telegrafische Antrag auf Anberaumung der mündlichen Verhandlung vom 3. August 1961 ging am gleichen Tage beim Bundesfinanzhof ein.
Der Vorsteher des Finanzamts beantragte, ihm Nachsicht wegen der Fristversäumung zu gewähren (ß 86 AO), weil er ohne sein Verschulden verhindert gewesen sei, die Frist einzuhalten. Der zuständige Sachgebietsleiter des Finanzamts habe am 21. Juni 1961 den von ihm verfaßten Bericht der Oberfinanzdirektion mit der Anfrage, ob er Antrag auf mündliche Verhandlung stellen solle, durch den zuständigen Listenführer als Boten vorgelegt und auf dem Entwurf verfügt: "Wiedervorlage am 27. d. Mts. (genau)". Da der zuständige Sachbearbeiter in Urlaub gewesen sei, habe der Sachgebietsleiter die Akten mit dem Entwurf dem Listenführer mit dem Auftrag übergeben, die Frist genau zu überwachen. Der sonst zuverlässige Listenführer habe vergessen, die Frist zu notieren. Die von dem Finanzpräsidenten am 28. Juli 1961 (Freitag) verfügte Zustimmung zum Antrag auf mündliche Verhandlung sei erst am 2. August 1961 (Mittwoch nachmittags) beim Finanzamt eingegangen und an diesem Nachmittag vom Vorsteher des Finanzamts und seinem Vertreter abgezeichnet und vom Vorsteher des Finanzamts mit dem Vermerk "eilt" versehen worden. Dem Vorsteher des Finanzamts sei der Zeitpunkt des Ablaufs der Frist nicht bekanntgewesen. Die Sache sei dann erst am 3. August 1961 dem Vertreter des im Urlaub befindlichen Sachgebietsleiters vorgelegt worden. Aus diesem Sachverhalt ergebe sich, daß die Versäumung der Frist auf einem Büroversehen beruhe. Bei der Entscheidung der Frage, ob das Verschulden des Listenführers als Erfüllungsgehilfen des Vorstehers des Finanzamts dem Vorsteher zuzurechnen sei, könne der Vorsteher des Finanzamts nicht schlechter als der Rechtsanwalt und der Steuerberater gestellt werden. Rechtsanwälte und Steuerberater hätten aber die Möglichkeit, ihr mangelndes Verschulden an der Fristversäumung dadurch darzutun, daß sie im Rahmen eines ordnungsmäßigen Bürobetriebes alles ihnen Zumutbare getan hätten, um Fristversäumungen auszuschließen, und daß die Fristversäumung lediglich auf dem Verschulden eines sonst zuverlässigen, mit der Fristüberwachung vertrauten Angestellten beruhe (Urteile des Bundesfinanzhofs III 130/54 S vom 10. September 1954, BStBl 1954 III S. 350, Slg. Bd. 59 S. 363; V 123/56 U vom 13. September 1956, BStBl 1956 III S. 327, Slg. Bd. 63 S. 341, und IV 260/59 U vom 4. August 1960, BStBl 1960 III S. 427, Slg. Bd. 71 S. 475).
Entscheidungsgründe
Der Antrag auf mündliche Verhandlung ist unzulässig.
Der Auffassung des Vorstehers des Finanzamts kann nicht gefolgt werden, daß die für die steuerberatenden Berufe von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zur Entscheidung der Frage, inwieweit ein Verschulden von Erfüllungsgehilfen (Angestellten) dem Bevollmächtigten persönlich zuzurechnen ist, auch bei ihm anzuwenden seien. Der Vorsteher des Finanzamts muß vielmehr in dieser Hinsicht dem Steuerpflichtigen gleichgestellt werden, der sich nicht auf die bezeichneten Grundsätze berufen kann (Urteil des Bundesfinanzhofs III 229/59 U vom 17. März 1961, BStBl 1961 III S. 264, Slg. Bd. 72 S. 727). Damit soll allerdings nicht gesagt sein, daß dem Steuerpflichtigen, der nach Lage der Dinge selbst die wichtigsten Fristen nicht persönlich überwachen kann und sich dazu Angestellter bedienen muß, stets das Verschulden eines Angestellten wie eigenes Verschulden zuzurechnen ist. Es sind jedoch beim Steuerpflichtigen und beim Vorsteher des Finanzamts strengere Anforderungen an den Nachweis zu stellen, daß sie an der Fristversäumung nicht schuld sind.
Geht man von diesen Grundsätzen aus, so war der Vorsteher des Finanzamts nicht ohne sein Verschulden verhindert, die Frist einzuhalten. Aus der Sachdarstellung des Vorstehers des Finanzamts ergibt sich, daß ihm die vom Finanzpräsidenten am 28. Juli 1961 gezeichnete Anweisung zum Antrag auf mündliche Verhandlung erst am Mittwoch, dem 2. August 1961, vorgelegt wurde. Da dem Finanzpräsidenten aus den ihm vorgelegten Vorgängen bekannt war, daß die Frist am nächsten Mittwoch abläuft und daß seine Anweisung dem Vorsteher des Finanzamts frühestens am Montag, dem 31. Juli 1961, zugehen konnte, so mußte er Maßnahmen treffen, um die Vorlage am Montag sicherzustellen. Das wäre, da sich Oberfinanzdirektion und Finanzamt in der gleichen Stadt befinden, ohne Schwierigkeiten möglich gewesen. Dieses Verhalten des Finanzpräsidenten muß dem Vorsteher des Finanzamts deshalb zugerechnet werden, weil er jedenfalls im Innenverhältnis zu seinem Vorgesetzten die ihm nach dem Gesetz allein zustehenden Entscheidung darüber, ob er Antrag auf mündliche Verhandlung stellen solle, seinem Vorgesetzten überließ.
Den Vorsteher des Finanzamts trifft aber auch ein eigenes Verschulden. Es kann zwar im allgemeinen dem Vorsteher eines großen Finanzamts nicht zugemutet werden, bei ihm durchlaufende Fristsachen auf den Ablauf der Frist hin selbst zu überwachen; er kann sich in der Regel darauf beschränken, die Eilbedürftigkeit der Sache hervorzuheben in der Annahme, daß andere Beamte oder Angestellte den Fristablauf überwachen. Hier liegen aber insofern besondere Verhältnisse vor, als es sich um die Wahrnehmung einer kurzen Rechtsmittelfrist in einer Sache handelte, deren Bedeutung sich ohne nähere Prüfung schon aus der Vorlage an die Oberfinanzdirektion ergab. Wenn dem Vorsteher des Finanzamts auch der Fristablauf nicht bekannt war, so ersah er doch aus der Vorlage am 2. August 1961 zumindest, daß die Sache bereits am 21. Juli 1961 an die Oberfinanzdirektion gegangen war. Da demnach die Sache zwölf Tage bei der Oberfinanzdirektion gelegen hatte, mußte die zweiwöchentliche Frist entweder schon abgelaufen sein oder der Fristablauf unmittelbar bevorstehen. Bei dieser Sachlage mußte sich der Vorsteher des Finanzamts noch am 2. August 1961 selbst um den Ablauf der Frist kümmern und notfalls vorsorglich telegrafisch den Antrag auf mündliche Verhandlung stellen.
Fundstellen
Haufe-Index 410244 |
BStBl III 1961, 555 |
BFHE 73, 795 |