Leitsatz (amtlich)
Die Grundsätze, die die Rechtsprechung über die Nachsichtgewährung (jetzt Wiedereinsetzung in den vorigen Stand) hinsichtlich der Entschuldbarkeit von Büroversehen in gut organisierten und überwachten Büros von Rechtsanwälten und Angehörigen der steuerberatenden Berufe aufgestellt hat, gelten nicht für andere Verhältnisse, insbesondere nicht für gewerbliche Betriebe.
Normenkette
FGO § 56 Abs. 1, § 120 Abs. 1, § 155; ZPO § 232 Abs. 2
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsklägerin (Steuerpflichtige) hat gegen das ihr am 8. August 1968 zugestellte Urteil des FG vom 14. Juni 1968 fristgerecht Revision eingelegt. Eine Begründung ist bis zum 8. Oktober 1968, an dem die Revisionsbegründungsfrist ablief (§ 120 Abs. 1 Satz 1 FGO) beim BFH nicht eingegangen. Mit einem am 9. Oktober 1968 aufgegebenen, am gleichen Tage beim BFH eingegangenen Telegramm bat die Steuerpflichtige um Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist um einen Monat, weil bei ihr am 1. Oktober 1968 ein Sachbearbeiterwechsel stattgefunden habe und der neue Sachbearbeiter sich erst einarbeiten müsse. Da eine bereits abgelaufene Frist nicht verlängert werden kann, lehnte der Senatsvorsitzende den Verlängerungsantrag unter Hinweis auf die in § 124 FGO genannten Folgen durch Schreiben vom 14. Oktober 1968 ab; in demselben Schreiben wurde die Steuerpflichtige auf die Möglichkeit, unter den Voraussetzungen des § 56 FGO Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu erlangen, hingewiesen. Am 21. Oktober 1968 ging beim BFH die Revisionsbegründung vom 19. Oktober 1968 zugleich mit dem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ein. Die Fristüberschreitung begründete die Steuerpflichtige mit einem Büroversehen. In einer beigefügten eidesstattlichen Versicherung führte die mit der Fristenkontrolle beauftragte Angestellte der Steuerpflichtigen aus: Sie sei als frühere Angestellte eines Steuerberaterbüros über die steuerliche Fristenregelung unterrichtet. Der Geschäftsführer der Steuerpflichtigen habe sie außerdem hinsichtlich Einlegung von Rechtsmitteln und Rechtsbehelfen mit eindeutigen Weisungen versehen. Sie habe alle Fristen zu notieren und für rechtzeitige Vorlage der betreffenden Vorgänge Sorge zu tragen. Sie sei auch im vorliegenden Falle zunächst entsprechend den erhaltenen Weisungen verfahren. Etwa eine Woche vor Fristablauf sei sie von dem Geschäftsführer wegen des Fristablaufs befragt und auf die rechzeitige Vorlage des Vorgangs ausdrücklich nochmals aufmerksam gemacht worden. Trotzdem sei der Vorgang nicht rechzeitig zur Vorlage gekommen, weil ihr Mann in den letzten Tagen vor Fristablauf schwer erkrankt sei. Sie habe aus diesem Grunde ihren Obliegenheiten trotz Bemühens nicht voll nachkommen können. Der Geschäftsführer der Steuerpflichtigen, der sie immer wieder kontrolliert habe, sei von ihrem teilweisen Ausfall nicht unterrichtet gewesen.
Entscheidungsgründe
Aus den Gründen:
Der Senat vermag dem Wiedereinsetzungsantrag nicht zu entsprechen, weil die Steuerpflichtige nicht ohne Verschulden verhindert war, die Revisionsbegründungsfrist (§ 120 Abs. 1 FGO) einzuhalten (§ 56 Abs. 1 FGO). Der Inhalt der eidesstattlichen Versicherung ihrer Angestellten läßt darauf schließen, daß die Steuerpflichtige die Grundsätze für sich in Anspruch nehmen will, die die Rechtsprechung hinsichtlich der Entschuldbarkeit von Büroversehen in gut organisierten und überwachten Büros von Rechtsanwälten und Angehörigen der steuerberatenden Berufe aufgestellt hat. Diese Grundsätze gelten aber - wie der BFH schon wiederholt entschieden hat (vgl. die Urteile III 229/59 U vom 17. März 1961, BFH 72, 727, BStBl III 1961, 264, und I 63/60 U vom 10. Oktober 1961, BFH 73, 795, BStBl III 1961, 555) - nicht für andere Verhältnisse, insbesondere nicht für gewerbliche Betriebe. Die höchstrichterliche Rechtsprechung hat die Grenzen der Entschuldbarkeit von Büroversehen für rechts- und steuerberatende Berufe weiter gezogen, weil die Angehörigen dieser Berufe bei Ausübung ihrer in das Rechtsleben eingreifenden Tätigkeit eine besondere öffentliche Verantwortung tragen, in ihrem Arbeitsbereich laufend eine größere Anzahl von Rechtsmittelfristen für andere Personen zu beachten ist und hierzu büroorganisatorische Maßnahmen und regelmäßige Kontrollen genügen müssen. Im einzelnen Gewerbebetrieb ist, selbst wenn er einen größeren Umfang hat, die Zahl der zu beachtenden Rechtsmittelfristen in aller Regel übersehbar; der Gewerbetreibende hat in aller Regel nur für sich selbst Fristen zu überwachen. Zwar wird man in einem Großbetrieb dem Steuerpflichtigen bzw. seinem Vertreter, der nach Lage der Dinge selbst die wichtigeren Fristen nicht persönlich überwachen kann und sich hierzu Angestellter bedienen muß, nicht immer das Verschulden eines Angestellten wie eigenes Verschulden zurechnen können. Es sind aber beim Steuerpflichtigen strengere Anforderungen an den Nachweis zu stellen, daß er an der Fristversäumnis nicht schuld ist (BFH-Entscheidung I 63/60 U vom 10. Oktober 1961, a. a. O.).
Diesen Nachweis hat die Steuerpflichtige nicht erbracht. Aus der eidesstattlichen Versicherung ergibt sich, daß die Angestellte etwa eine Woche vor Ablauf der Revisionsbegründungsfrist vom Geschäftsführer der Steuerpflichtigen "wegen des Fristablaufs befragt" worden ist. Es mußte dem Geschäftsführer also klar sein, daß das Ende der Frist bevorstand und Vorsorge getroffen werden mußte, die Revisionsbegründung in die Wege zu leiten, damit sie nach Anfertigung der Reinschrift und Leistung der Unterschrift rechtzeitig auf den Weg zum BFH gebracht werden konnte. In ihrem verspätet eingegangenen Telegramm hatte die Steuerpflichtige den Fristverlängerungsantrag mit einem am 1. Oktober 1968 eingetretenen Sachbearbeiterwechsel und der Notwendigkeit der Einarbeitung durch den neuen Sachbearbeiter begründet. Abgesehen davon, daß die Begründungen im Telegramm und in der eidesstattlichen Erklärung in einem gewissen Widerspruch zueinander stehen, war es Anfang Oktober 1968, als etwa zur selben Zeit der Sachbearbeiterwechsel und das Gespräch des Geschäftsführers mit der Angestellten stattfanden, höchste Zeit, dem neuen Sachbearbeiter die Vorgänge zur Einarbeitung und Anfertigung der Revisionsbegründung oder zur rechtzeitigen Stellung eines Fristverlängerungsantrags zuzuleiten. Es ist ein der Steuerpflichtigen zuzurechnendes Versäumnis (§§ 155 FGO, 232 Abs. 2 ZPO), daß ihr Geschäftsführer dies nicht veranlaßt hat. Der Senat konnte nicht die Überzeugung gewinnen, die Steuerpflichtige habe die ihr nach den Umständen zumutbare Sorgfalt eines gewissenhaften und sachgemäß Prozeßführenden gewahrt (Beschluß des Bundesverwaltungsgerichts II C 281/54 vom 29. Juli 1955 in Die öffentliche Verwaltung 1956 S. 125 Nr. 64).
Die Revision war, weil sie nicht innerhalb der in § 120 Abs. 1 Satz 1 FGO vorgeschriebenen Frist begründet worden ist und der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand abzulehnen war, gemäß § 124 FGO mit der Kostenfolge aus § 135 Abs. 2 FGO als unzulässig zu verwerfen.
Fundstellen
Haufe-Index 68255 |
BStBl II 1969, 263 |
BFHE 1969, 569 |