Leitsatz (amtlich)
1. Zur gerichtlichen Nachprüfung von Prüfungsentscheidungen.
2. Sind bei der Bewertung der schriftlichen Arbeiten einer Steuerberaterprüfung bestimmte Punktschlüssel oder Punkttabellen zugrunde gelegt worden, kann das mit der Nachprüfung der Prüfungsentscheidung befaßte Gericht deren Vorlage verlangen.
Normenkette
GG Art. 19 Abs. 4; StBerG § 4 Abs. 1; FGO § 71 Abs. 2, § 78 Abs. 2, § 86
Tatbestand
Der Kläger und Beschwerdegegner (Kläger) hatte an der Steuerberaterprüfung 1967 teilgenommen, diese aber nicht bestanden. Seine beiden schriftlichen Arbeiten waren mit mangelhaft bewertet worden. Wegen des Nichtbestehens der Prüfung hat er beim FG Klage erhoben, über die noch nicht entschieden worden ist. Durch Beschluß vom 22. Februar 1972 ordnete das FG die Vernehmung des Vorsitzenden des Prüfungsausschusses als Zeugen an und gab dem Beklagten und Beschwerdeführer (Ministerium der Finanzen - FM -) auf, die als Richtlinie für die Benotung der schriftlichen Arbeiten vom Prüfungsausschuß verwendete Punkttabelle vorzulegen. Das FM teilte dem FG mit, welche Noten bei Erreichen bestimmter Punktzahlen vergeben werden, und wies ferner darauf hin, daß bei den dem Gericht vorliegenden schriftlichen Arbeiten des Klägers jeweils am Rande jeder Seite Haken oder Kreuze angebracht seien, die jeweils einen gewährten Punkt bedeuteten. Im übrigen war das FM der Meinung, es brauche die Punkttabelle nicht vorzulegen. Es beantragte, zu entscheiden, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für seine Weigerung glaubhaft gemacht seien.
Das FG entschied durch Beschluß, daß das FM die Vorlage der mit Beweisbeschluß vom 22. Februar 1972 geforderten Unterlagen nicht verweigern dürfe. Das FG führte aus, die dem Gericht vorliegenden Unterlagen zeigten, daß der Prüfungsausschuß bei der Beurteilung der Klausurarbeiten ein Punktschema zugrunde gelegt habe. Werde eine Leistung daran gemessen, wieviel Punkte von einer festgesetzten Höchstzahl erreicht seien, könne nicht behauptet werden, die Punkttabelle sei für die Benotung der Arbeit unerheblich. Der Vorsitzende des Prüfungsausschusses habe als Zeuge bekundet, der Punktschlüssel sei der Bewertungsmaßstab gewesen, auf den sich die beiden Korrektoren der schriftlichen Arbeiten verständigt hätten, und er könne sich nicht vorstellen, daß eine Arbeit ganz losgelöst von diesem Bewertungsmaßstab beurteilt worden sei. Solange also das Gericht das verwendete Punktschema nicht kenne, könne es nicht beurteilen, ob und aus welchen Gründen die Prüfer davon abgewichen seien. Es sei unter diesen Umständen nicht sinnvoll, die Korrekturen ohne den Punktschlüssel erläutern zu lassen oder die Prüfer als Zeugen dazu zu vernehmen. Der Auffassung des FM, bei Musterlösungen und Punkttabellen handle es sich um Schriftstücke, die lediglich der Vorbereitung der Verwaltungsentscheidung dienten und deshalb in entsprechender Anwendung des § 78 Abs. 2 FGO nicht vorgelegt zu werden brauchten, könne nicht gefolgt werden.
Es bestehe somit nach § 86 Abs. 1 und Abs. 2 FGO kein Grund, der das FM berechtige, die angeforderten Schriftstücke nicht vorzulegen.
Hiergegen wendet sich das FM mit seiner Beschwerde. Es trägt vor, es habe sich bei seiner Weigerung nicht auf § 86 Abs. 1 oder Abs. 2 FGO berufen. Es liege vielmehr ein Abgrenzungsfall zwischen § 71 Abs. 2 FGO und § 78 Abs. 2 FGO vor, über den entsprechend § 387 ZPO durch Zwischenurteil hätte entschieden werden müssen. Was den sachlichen Streit anbelange, gehörten die angeforderten Musterlösungen und Bewertungsvorschläge nicht zu den die Streitsache betreffenden Akten, die nach § 71 Abs. 2 FGO dem Gericht zu übersenden seien. Sie gehörten dem Vorentscheidungsraum an und brauchten somit weder nach § 78 noch nach § 86 FGO vorgelegt zu werden. Sie seien deshalb nicht der Einsichtnahme durch die Gegenseite zugänglich. Welche Mängel die Arbeiten des Klägers aufwiesen, ergebe sich aus den vorgelegten Prüfungsakten.
Das FM beantragt, unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung seine Weigerung, Musterlösung und Punktbewertung vorzulegen, für begründet zu erklären.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist nicht begründet.
Das FG hat nicht gegen Grundsätze des finanzgerichtlichen Verfahrens verstoßen, wenn es vom FM durch Beweisbeschluß die Vorlage der Punkttabelle verlangte. Im finanzgerichtlichen Verfahren bilden die Akten der Verwaltungsbehörde eine wesentliche Entscheidungsgrundlage. Die Verwaltungsbehörde trägt daher eine besondere Verantwortung dafür, daß dem Gericht alle für seine Entscheidung wichtigen Akten vorgelegt werden (§ 71 Abs. 2 FGO). Darüber hinaus ist die Behörde nach § 86 FGO zur Vorlage von Urkunden und Akten verpflichtet, die den Streitgegenstand betreffen. Hält die Behörde Aktenteile oder Urkunden zurück, um sie von der Einsichtnahme durch den Verfahrensgegner auszuschließen, hält das Gericht gleichwohl die Vorlage für notwendig, kann es die Vorlage anordnen. Die Vorlage wird zweckmäßigerweise nicht durch eine prozeßleitende Verfügung des Vorsitzenden, sondern durch einen Beweis- oder Auflagenbeschluß des Gerichts angeordnet; denn das Gericht muß sich darüber schlüssig werden, ob es nach Kundgabe der Weigerung durch die Behörde auf seiner Forderung besteht.
Hält die Behörde auch gegenüber diesem Beschluß ihre Weigerung aufrecht, hat das Gericht auf Antrag eines Beteiligten darüber zu befinden, ob glaubhaft gemacht ist, daß die Gründe für eine Weigerung vorliegen (Ziemer-Birkholz, Finanzgerichtsordnung, 2. Aufl., § 71 Rdnr. 14; v. Wallis-List in Hübschmann-Hepp-Spitaler, Kommentar zur Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, 1. bis 6. Aufl., § 71 FGO, Rdnr. 10). Dieser Streit ist ein Zwischenstreit, über den nach ausdrücklicher Bestimmung des § 86 Abs. 3 FGO durch Beschluß und nicht durch Zwischenurteil zu entscheiden ist. Es besteht dann kein Anlaß, die Vorschriften des § 387 ZPO, die im Falle des Zwischenstreits über die Rechtmäßigkeit einer Zeugnisverweigerung eine Entscheidung durch Zwischenurteil anordnen, entsprechend anzuwenden.
Das FG hat auch zu Recht entschieden, daß das FM die Vorlage der mit Beweisbeschluß angeforderten Unterlagen nicht verweigern darf.
In der vor dem FG anhängigen Klage ist u. a. die Benotung der beiden schriftlichen Prüfungsarbeiten des Klägers im Streit. Der Kläger hat in umfangreichen Ausführungen dargelegt, in welcher Hinsicht seiner Meinung nach richtige Lösungen nicht richtig bewertet oder zu Unrecht als falsch beurteilt worden seien. Auf den Kopfbögen der Prüfungsarbeiten ist jeweils vermerkt, wieviel Punkte von einer möglichen Gesamtpunktzahl der Kläger erreicht hat. Nach der Beurteilung des Prüfungsausschusses hat er bei der einen Arbeit von 43 Problempunkten nur 15, bei der anderen von 90 Problempunkten nur 24 1/2 gelöst. Der Kläger hat daraufhin für beide Arbeiten die Note mangelhaft erhalten.
Die Gerichte stehen immer wieder vor der Frage, inwieweit sie derartige Prüfungsentscheidungen nachprüfen können. Es entspricht dem Wesen der Prüfungsentscheidungen, daß sie sich einer vollen richterlichen Nachprüfung entziehen. Das um Rechtsschutz angegangene Gericht kann insbesondere eine schriftliche Arbeit nicht in der Weise nachprüfen, daß es - etwa nach eigener Lösung der Prüfungsaufgabe - Punkt für Punkt oder Satz für Satz der Arbeit durchgeht und gewissermaßen neu bewertet. Das Gericht hat nicht die Aufgabe eines Prüfungsausschusses. Prüfungsentscheidungen sind nach den von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen daher nur in folgender Hinsicht nachprüfbar: Ob die Prüfer von unzutreffenden Tatsachen ausgegangen sind, ob sachfremden Erwägungen Raum gegeben worden ist, ob die Prüfungsanforderungen, vornehmlich in bezug auf Aufgabenstellung und auf Bewertung der Arbeiten, überspannt worden sind, ob sonst allgemeingültige Bewertungsmaßtäbe außer acht gelassen und ob sonst die für die Prüfung geltenden Verfahrensbestimmungen eingehalten worden sind (Urteile des BFH vom 2. August 1967 VII 264/63, BFHE 89, 370, BStBl III 1967, 579, und vom 26. September 1967 VII R 51/66, BFHE 89, 559, BStBl III 1967, 714).
Um dem Gericht eine Prüfung in diesem Umfang zu ermöglichen, müssen dem Gericht die Prüfungsakten einschließlich der schriftlichen Arbeiten des Geprüften vorgelegt werden. Das ergibt sich aus der angeführten BFH-Entscheidung VII 264/63, die ein Rechtsschutzinteresse des Geprüften auf Einsichtnahme in diese Prüfungsunterlagen eindeutig bejaht. Inwieweit mit den Prüfungsakten die den Prüfern an die Hand gegebenen Lösungshinweise und Bewertungsvorschläge nach einem Punktsystem ebenfalls vorgelegt werden müssen, läßt sich nicht allgemein entscheiden. Der BFH hat in der Entscheidung vom 20. April 1971 VII R 95/68 (BFHE 102, 187, BStBl II 1971, 499) unter Bezugnahme auf frühere Entscheidungen noch einmal deutlich ausgesprochen, daß Lösungs- und Bewertungsvorschläge nur eine unverbindliche Hilfe für die gleichmäßige Beurteilung der Prüfungsarbeiten darstellen und die Unabhängigkeit und Unvoreingenommenheit der Prüfer dadurch nicht beeinträchtigt werden darf. Die Prüfer sind somit an die in den Lösungshinweisen gegebenen Punktbewertungen nicht gebunden und haben einen gewissen Beurteilungsspielraum. Sie haben insbesondere auch die Art und Weise der Bearbeitung, den logischen Aufbau der Prüfungsarbeit und das sich ergebende Gesamtbild zu berücksichtigen. Das schließt jedoch nicht aus, daß die Prüfer in der Regel schon im Interesse einer gleichmäßigen Behandlung aller Prüfungskandidaten die Lösungshinweise und die darin enthaltenen Punktbewertungen zur Richtschnur ihrer Korrekturarbeiten nehmen. Es kann grundsätzlich auch nicht beanstandet werden, wenn sich die Prüfer auf eine bestimmte Punktbewertung einigen.
Im vorliegenden Fall haben, wie insbesondere die Vernehmung des Vorsitzenden des Prüfungsausschusses durch das FG ergeben hat, die Prüfer bei der Bewertung der schriftlichen Arbeiten des Klägers Punkttabellen angewendet. Wird, wie hier, substantiiert die Art und Weise der Bewertung der schriftlichen Arbeiten anhand der Punkttabellen angegriffen, muß das Gericht im Rahmen seiner - wenn auch eingeschränkten - Nachprüfungsbefugnis in die Lage versetzt werden, festzustellen, ob bei der für die abschließende Benotung einer schriftlichen Arbeit so bedeutsamen Zuteilung von Punkten willkürliche oder sachfremde Erwägungen obgewaltet haben. Das FG könnte versuchen, derartige Feststellungen durch Vernehmung der Prüfer zu treffen. Es ist aber in Übereinstimmung mit der Vorinstanz nicht sinnvoll, sich die einzelnen Korrekturen ohne Bekanntgabe des verwendeten Punktschlüssels erläutern zu lassen. Dem Gericht würde dadurch eine wesentliche Erkenntnisquelle verschlossen bleiben. Es muß in die Lage versetzt werden, alle Erkenntnisquellen, die es für seine Entscheidung braucht, soweit wie möglich auszuschöpfen. Der erkennende Senat ist daher in Übereinstimmung mit dem FG der Ansicht, daß zur Nachprüfung einer Benotung, die mit Hilfe bestimmter Punktschlüssel oder Punkttabellen vorgenommen worden ist, diese Unterlagen dem Gericht vorgelegt werden müssen; sie bilden gleichsam das Maß, mit der die Leistung des Prüfungskandidaten gemessen worden ist.
Die Unabhängigkeit der Prüfungsausschüsse wird durch das Verlangen auf Vorlage der Bewertungsgrundlagen nicht beeinträchtigt. Es gilt hier im Grunde das gleiche, was der BFH in dem Urteil VII 264/63 von der Vorlage der Prüfungsakten und der Befugnis des Geprüften, diese Akten einzusehen, schon ausgesprochen hat. Die Unabhängigkeit der Prüfungsausschüsse und der einzelnen Prüfer ist durch die erwähnte beschränkte gerichtliche Nachprüfbarkeit der Prüfungsentscheidungen hinreichend gesichert. Diese Unabhängigkeit darf jedoch nicht dazu führen, die Aufklärarbeit von Fehlern, die auf seiten der Prüfenden etwa vorgekommen sind, zu verhindern oder zu erschweren. Eine so weitgehende Unabhängigkeit ließe sich mit rechtsstaatlichen Grundsätzen, insbesondere der Chancengleichheit aller Prozeßbeteiligten vor Gericht und dem Anspruch auf ausreichenden Rechtsschutz gegenüber Rechtsverletzungen durch die öffentliche Gewalt (Art. 19 Abs. 4 GG), nicht vereinbaren.
Unter diesen Umständen vermag der erkennende Senat der Auffassung des FM, Musterlösungen und Bewertungsvorschläge gehörten zum Vorentscheidungsraum und brauchten in entsprechender Anwendung des § 78 Abs. 2 FGO nicht vorgelegt zu werden, nicht zu folgen. Wie der BFH in der Entscheidung VII 264/63 ebenfalls ausgesprochen hat, ist § 78 Abs. 2 FGO auf die Tätigkeit der Prüfer bei der Beurteilung der Prüfungsarbeiten nur mit großen Einschränkungen entsprechend anwendbar. Diese Vorschrift betrifft unmittelbar nur die richterliche Tätigkeit. Sie verbietet es, insbesondere die Entwürfe zu Urteilen, Beschlüssen und Verfügungen, ferner die Arbeiten zu ihrer Vorbereitung (Voten) einem Prozeßbeteiligten zugänglich zu machen, und dient somit der Wahrung der Unabhängigkeit der Mitglieder eines Gerichts bei der Urteilsfindung. Die Tätigkeit des Prüfungsausschusses bei der Beurteilung jeder einzelnen Prüfungsarbeit ist aber eine andere und mit der Tätigkeit des Richters bei der Urteilsfindung nicht gleichzusetzen. Es ist nämlich zu bedenken, daß die Prüfungsgesamtnote aus dem Ergebnis der einzelnen Leistungen des Prüfungskandidaten gebildet wird. Mit der Benotung jeder einzelnen Leistung werden die Grundlagen für die Gesamtbeurteilung geschaffen. Die Prüfer bzw. der Prüfungsausschuß fällen somit bei der Benotung jeder einzelnen Arbeit eine wichtige pädagogische Einzelentscheidung, die in dem aufgezeigten Rahmen der richterlichen Nachprüfung unterliegt. Da diese richterliche Nachprüfung, wie schon ausgeführt, im vorliegenden Falle nur anhand der Punkttabellen zufriedenstellend vor sich gehen kann, kann deren Vorlage nicht mit der Begründung verweigert werden, sie seien lediglich ein unverbindliches Hilfsmittel bei der Meinungsbildung des Prüfungsausschusses gewesen.
Da auch sonst keine Gründe ersichtlich sind, wonach das FM die Vorlage der Punkttabellen zu Recht verweigern konnte - sie sind weder nach § 86 Abs. 1 und 2 FGO noch nach sonstigen Vorschriften geheimzuhalten, noch unterliegen sie ihrem Wesen nach der Geheimhaltung -, mußte das FG zu dem im angefochtenen Beschluß ausgesprochenen Ergebnis gelangen.
Die Beschwerde war daher mit der Kostenfolge aus § 135 Abs. 2 FGO als unbegründet zurückzuweisen.
Fundstellen
Haufe-Index 70174 |
BStBl II 1973, 253 |
BFHE 1973, 560 |