Entscheidungsstichwort (Thema)
NZB: Abrechnungsbescheid; Rechtskraftwirkung eines vorangegangenen FG-Urteils
Leitsatz (NV)
- Der Streitgegenstand eines rechtskräftig gewordenen Urteils ergibt sich nicht allein aus dem Tenor des Urteils, sondern auch unter Berücksichtigung des Sachverhalts, der der Entscheidung zugrunde lag.
- Verfahrensgegenstand einer Abrechnung über bestimmte Streueransprüche ist die Feststellung, dass diese Ansprüche (noch) bestehen oder dass sie durch Verrechnungen, Umbuchungen und Erstattungen erloschen sind.
- Die rechtskräftige Entscheidung über die Abrechnung bestimmter Steueransprüche zu einem bestimmten Stichtag steht bei unveränderten Verhältnissen der Erteilung eines erneuten Abrechnungsbescheides entgegen.
- Erlässt das Gericht ein Prozessurteil, ist es ihm verwehrt, zu materiell-rechtlichen Fragen Stellung zu nehmen.
- Die Anforderungen an die Darlegung des Erfordernisses einer höchstrichterlichen Entscheidung zu einer bestimmten Rechtsfrage entsprechen denen, die an die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung zu stellen sind.
Normenkette
AO 1977 § 218 Abs. 2; FGO § 115 Abs. 2, § 116 Abs. 3 S. 3
Verfahrensgang
FG Düsseldorf (Urteil vom 21.05.2003; Aktenzeichen 18 K 4583/02 AO) |
Tatbestand
I. Die Beteiligten streiten darum, ob die Rechtskraft mehrerer Abrechnungsbescheide, mit denen das Erlöschen der Steueransprüche aus den Einkommensteuerveranlagungen 1980 bis 1984 festgestellt und ein Anspruch auf Festsetzung von Prozesszinsen zum Einkommensteuerguthaben für 1983 rechtskräftig verneint worden ist, der Erteilung eines erneuten Abrechnungsbescheides bezüglich der genannten Ansprüche und eines Bescheides über die Festsetzung von Prozesszinsen entgegensteht.
Dem Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) standen aus den Einkommensteuerveranlagungen 1982, 1983 und 1984 Steuerguthaben zu, die der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt ―FA―) mit fälligen Steuerrückständen aus den Einkommensteuerveranlagungen 1980 und 1981 verrechnet bzw. durch Umbuchungen getilgt hat. Diese Verrechnungen und Umbuchungen waren Gegenstand eines Abrechnungsbescheides, mit dem das FA aus der Einkommensteuerveranlagung für 1983 zum Stichtag 5. Februar 1988 (Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung) ein Guthaben von 1 176 DM festgestellt hat. Diese Abrechnung fand durch rechtskräftig gewordenes Urteil des Finanzgerichts (FG) vom … 1998 ihre Bestätigung. Auf den Antrag des Klägers, das Guthaben auszuzahlen, erließ das FA einen weiteren Abrechnungsbescheid zum Stichtag 29. September 1998, in dem es festgestellt hat, dass das Guthaben des Klägers aus den Einkommensteuerveranlagungen 1982 bis 1984 durch im Einzelnen aufgeführte Verrechnungen mit Steuerrückständen aus den Einkommensteuerveranlagungen 1980 und 1982 sowie Erstattungen zum 1. Oktober 1998 erloschen ist und dass ein Anspruch des Klägers auf Prozesszinsen hinsichtlich der Einkommensteuerveranlagung für 1983 nicht bestehe. Auch diese Entscheidung des FA wurde durch rechtskräftiges Urteil des FG vom … 2001, mit dem das Erlöschen aller gegenseitigen Ansprüche aus den Einkommensteuerveranlagungen 1980 bis 1984 rechtskräftig festgestellt worden ist, bestätigt.
Gleichwohl beantragte der Kläger im Juni 2001 erneut die Erteilung eines Abrechnungsbescheides zur Einkommensteuer 1980 bis 1984 sowie den Erlass eines Bescheides über Prozesszinsen in Höhe von 6 % aus 1 176 DM (Guthaben aus der Einkommensteuerveranlagung 1983). Das FA hat den Erlass des begehrten Abrechnungsbescheides und die Festsetzung von Prozesszinsen unter Hinweis auf die rechtskräftigen Entscheidungen des FG über die Höhe und das Erlöschen der geltend gemachten Erstattungsansprüche und das Nichtbestehen eines Zinsanspruches abgelehnt.
Die nach erfolglosem Einspruch erhobene Klage hat das FG als unzulässig abgewiesen. Hierzu führte es aus, es sei rechtskräftig darüber entschieden, dass dem Kläger wegen Einkommensteuer 1980 bis 1984 kein verbleibendes Steuerguthaben zustehe und dass er im Zusammenhang mit den diesbezüglichen Prozessen keinen Zinsanspruch habe. Die Rechtskraft der finanzgerichtlichen Urteile vom … 1998 und … 2001 stehe einer erneuten Sachentscheidung entgegen, da zwischen den Beteiligten verbindlich festgestellt sei, dass zum Abrechnungszeitpunkt (Oktober 1998) aus den vorgenannten Einkommensteuerveranlagungen keine gegenseitigen Ansprüche mehr bestanden haben.
Die gegen dieses Urteil gerichtete Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision stützt der Kläger auf den Verfahrensmangel der Verletzung des rechtlichen Gehörs und des Übergehens seines materiell-rechtlichen Vortrags. Ferner macht er eine Divergenz zur Rechtsprechung des erkennenden Senats geltend und hält eine höchstrichterliche Entscheidung zur Fortbildung des Rechts für erforderlich.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde hat keinen Erfolg, weil die geltend gemachten Revisionszulassungsgründe entweder nicht den Anforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) entsprechend dargelegt worden oder nicht begründet sind.
1. Auch wenn der Kläger sich hinsichtlich der Klageabweisung als unzulässig nicht ausdrücklich auf den Zulassungsgrund des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO beruft, kann seinem Vorbringen, das FG hätte in die materiell-rechtliche Prüfung seines Antrages vom 11. Juni 2001 auf Erteilung eines weiteren Abrechnungsbescheides sowie hinsichtlich seines Antrages auf Festsetzung von Prozesszinsen eintreten müssen, entnommen werden, dass er in dem Ergehen eines Prozessurteils einen Verfahrensmangel sieht. Ein Verfahrensmangel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO liegt nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) auch dann vor, wenn das FG fehlerhaft statt eines Sachurteils ein Prozessurteil erlässt (vgl. Senatsentscheidung vom 13. März 2003 VII B 196/02, BFHE 201, 425, BStBl II 2003, 609, und BFH-Beschluss vom 10. Januar 2002 IV B 32/01, BFH/NV 2002, 927, m.w.N.). Ein diesbezüglicher Verfahrensmangel liegt indes nicht vor, weil das FG zutreffend entschieden hat, dass einer erneuten Sachentscheidung die Rechtskraft des FG-Urteils vom … 1998, mit dem nach Verrechnungen und Erstattungen aus den Einkommensteuerveranlagungen 1980 bis 1984 ein Guthaben aus Einkommensteuer 1983 über 1 176 DM festgestellt worden ist, und des Urteils vom … 2001, in dem das Erlöschen der Ansprüche aus den Einkommensteuerveranlagungen 1980 bis 1984 spätestens zum Oktober 1998 bestätigt worden ist, entgegensteht.
Nach § 110 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 FGO binden rechtskräftige Urteile die Beteiligten, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist. Der Streitgegenstand ergibt sich nicht allein aus dem Tenor des Urteils, sondern unter Berücksichtigung des Sachverhalts, der der Entscheidung zugrunde lag. Zwar erwächst nur der Tenor der Entscheidung in Rechtskraft und ergibt die Bindungswirkung (hier das Erlöschen des Einkommensteuerguthabens für 1983). Die Entscheidungsgründe geben aber Aufschluss darüber, welcher Sachverhalt der Entscheidung zugrunde lag und wie weit die Bindungswirkung gemäß § 110 Abs. 1 FGO reicht (vgl. Urteile des BFH vom 7. Februar 1990 I R 145/87, BFHE 161, 387, BStBl II 1990, 1032, m.w.N.; vom 27. Februar 1997 IV R 38/96, BFH/NV 1997, 388, und vom 17. Dezember 1998 IV R 47/97, BFHE 187, 409, BStBl II 1999, 303). Streitgegenstand der FG-Urteile vom … 1998 und vom … 2001 war die Abrechnung über die Steueransprüche 1980 bis 1984 und die Feststellung, dass diese Ansprüche durch Verrechnungen, Umbuchungen und Erstattungen getilgt worden sind. Damit entfalten die vorgenannten FG-Urteile Bindungswirkung für die Beteiligten auch insoweit, als verbindlich feststeht, dass alle Ansprüche aus den Einkommensteuerveranlagungen 1980 bis 1984 erloschen sind und dass dem Kläger ein Anspruch auf Festsetzung von Prozesszinsen aus dem Einkommensteuerguthaben für 1983 nicht zusteht. Eine Änderung der Verhältnisse, die möglicherweise einen Anspruch auf Erteilung eines weiteren Abrechnungsbescheides für die vorgenannten Zeiträume zuließe (vgl. § 110 Abs. 2 FGO), hat der Kläger selbst nicht behauptet. Sie ist nach Aktenlage auch nicht ersichtlich. Anders als die Beschwerde meint, ist Verfahrensgegenstand auch nicht die Abrechnung zu einem neuen Stichtag, sondern ―wie sich aus dem Klageantrag eindeutig ergibt― die Abrechnung über bestimmte steuerliche Ansprüche. Anderenfalls hätte die Klage überdies ebenfalls (als unbegründet) abgewiesen werden müssen, weil das Erhöhen bzw. Nichtbestehen dieser Ansprüche rechtskräftig feststeht.
2. Die Entscheidung des FG beruht auch nicht auf dem Verfahrensmangel der Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO), weil das FG dem Kläger keine Gelegenheit gegeben hätte, sich zu der Möglichkeit einer Entscheidung durch Prozessurteil zu äußern, und weil es sein materiell-rechtliches Vorbringen nicht zur Kenntnis genommen hätte. Der Kläger, der damit geltend macht, das Gericht habe ein Überraschungsurteil erlassen und zudem seiner Entscheidung nicht das Gesamtergebnis des Verfahrens zugrunde gelegt (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO i.V.m. Art. 103 des Grundgesetzes ―GG―, und § 96 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 FGO), hat diese Rüge nicht nur nicht schlüssig dargelegt, sondern sie auch unberechtigt erhoben. Denn die Frage, ob die Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidungen über die Abrechnungsbescheide hinsichtlich der Einkommensteuer 1980 bis 1984 zu den Stichtagen zum 5. Februar 1988 und zum 29. September 1998 einer erneuten Sachentscheidung über diese Abrechnungen bezüglich des gleichen Abrechnungsgegenstandes und der gleichen Abrechnungszeiträume bei unveränderten Verhältnissen entgegensteht, war bereits Gegenstand des Vorverfahrens sowie der vor dem FG gewechselten Schriftsätze der Beteiligten, so dass der Kläger als im Prozessrecht erfahrener Anwalt mit einem Prozessurteil rechnen musste. Damit geht auch der Vorwurf, das FG habe das materiell-rechtliche Vorbringen des Klägers nicht beachtet, ins Leere; denn bei der gegebenen Prozesslage war es dem Gericht verwehrt, zu den materiell-rechtlichen Fragen Stellung zu nehmen (vgl. BFH-Beschluss vom 24. Juli 1997 X R 35/96, BFH/NV 1998, 60). Diese Ausführungen gelten gleichermaßen für den geltend gemachten Anspruch des Klägers auf Festsetzung von Prozesszinsen.
3. Das Vorbringen des Klägers zur Abweichung des FG-Urteils von der Rechtsprechung des BFH in seinen Entscheidungen vom 4. Mai 1993 VII R 82/92 (BFH/NV 1994, 285) und vom 2. März 1971 VII R 74/68 (BFHE 102, 7, BStBl II 1971, 498) erfüllt schon nicht die an die Darlegung des Zulassungsgrundes des § 115 Abs. 2 Nr. 2 2. Alternative FGO nach § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO zu stellenden Anforderungen. Hierzu hätte der Kläger dem zitierten Rechtssatz aus den o.g. Entscheidungen des erkennenden Senats, nämlich, dass bei Abrechnungsbescheiden über den Status der Abrechnung entschieden wird, wie er sich im Zeitpunkt des Erlasses der Einspruchsentscheidung darstellt, einen Rechtssatz aus dem Urteil der Vorinstanz gegenüberstellen müssen, aus dem sich eine Abweichung ergeben hätte. Daran fehlt es hier. Zudem liegt die behauptete Abweichung des FG-Urteils von der Entscheidung des Senats in BFH/NV 1994, 285 nicht vor; denn dort hat der Senat neben dem vom Kläger zitierten und vom FG nicht in Zweifel gezogenen Rechtssatz auch ausgeführt, dass der Abrechnungsbescheid nach den zu diesem Zeitpunkt gegebenen Verhältnissen über das Erlöschen von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis für die Beteiligten verbindlich entscheidet und lediglich spätere Änderungen der Steuerfestsetzungen in einem auf einen späteren Stichtag neu zu erteilenden Abrechnungsbescheid Berücksichtigung finden könnten.
4. Soweit die Beschwerde die Zulassung der Revision zur Fortbildung des Rechts wegen einer weiteren Definierung und Präzisierung des Umfangs der Rechtskraft eines Urteils über einen Abrechnungsbescheid aus allgemein großem rechtlichen Interesse für erforderlich hält, ist dieser Vortrag nicht geeignet, den Zulassungsgrund des § 115 Abs. 2 Nr. 2 1. Alternative FGO in der nach § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO erforderlichen Weise darzulegen. Der Zulassungsgrund des § 115 Abs. 2 Nr. 2 1. Alternative FGO konkretisiert den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO; d.h. eine Entscheidung des BFH zur Fortbildung des Rechts kann nur in den Fällen erforderlich sein, in denen über bisher noch ungeklärte Rechtsfragen zu entscheiden ist oder wenn gegen die bestehende höchstrichterliche Rechtsprechung gewichtige Argumente vorgetragen werden, die der BFH noch nicht erwogen hat (vgl. Gräber/ Ruban, Finanzgerichtsordnung, 5. Aufl., § 115 Rz. 41, sowie BFH-Beschluss vom 16. April 2002 X B 102/01, BFH/NV 2002, 1045). Die Darlegung der Erforderlichkeit einer höchstrichterlichen Entscheidung zur Fortbildung des Rechts erfordert daher substantielle und konkrete Angaben zu einer bestimmten Rechtsfrage und die Darlegung, dass der BFH sich zu dieser Rechtsfrage noch nicht oder nicht erschöpfend geäußert hat. Hat der BFH bereits früher über die Rechtsfrage entschieden, muss der Beschwerdeführer unter Auseinandersetzung mit der vorhandenen höchstrichterlichen Rechtsprechung und den in der Literatur und der Rechtsprechung dazu vertretenen Auffassungen begründen, warum er gleichwohl eine erneute Entscheidung des BFH zu dieser Frage zur Rechtsfortbildung im Interesse der Rechtseinheit für erforderlich hält. Die Beschwerdebegründung enthält solche Angaben nicht; insbesondere setzt sie sich mit der bereits vorhandenen Rechtsprechung des erkennenden Senats zur Bindungswirkung von Abrechnungsbescheiden, mit denen das Erlöschen der gegenseitigen Ansprüche rechtskräftig festgestellt wird, nicht auseinander.
An den genannten Darlegungserfordernissen hat auch ―was der Kläger in seiner Beschwerdebegründung möglicherweise verkannt hat― die Neufassung des Revisionszulassungsgrundes in § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO i.d.F. des Zweiten Gesetzes zur Änderung der Finanzgerichtsordnung und anderer Gesetze vom 19. Dezember 2000 (2.FGOÄndG, BGBl I, 1757) nichts geändert. Denn die Vorschrift des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO verlangt wortgleich mit § 115 Abs. 3 Satz 3 FGO a.F. die Darlegung des Zulassungsgrundes. Auch aus der Bezugnahme auf § 74 Abs. 2 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen in der Gesetzesbegründung (BTDrucks 14/4061, S. 9) ergibt sich nichts anderes. Vielmehr gelten die Darlegungserfordernisse, die die Rechtsprechung des BFH zur Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung entwickelt hat, nunmehr auch für den Zulassungsgrund des § 115 Abs. 2 Nr. 2 1. Alternative FGO, nämlich der Erforderlichkeit einer höchstrichterlichen Entscheidung zur Fortbildung des Rechts (vgl. BFH-Beschluss vom 14. August 2001 XI B 57/01, BFH/NV 2002, 51, und m.w.N. unter Hinweis auf Spindler, Das 2. FGO-Änderungsgesetz, Der Betrieb 2001, 61).
Fundstellen