Entscheidungsstichwort (Thema)
Antrag auf Vorabentscheidung vom 17.01.1989 - VII R 56/86
Leitsatz (amtlich)
Ist der Europäische Gerichtshof nur dann befugt, eine Entscheidung der Kommission der Europäischen Gemeinschaften wegen Tatsachen- oder Rechtsirrtums als ungültig aufzuheben, wenn der Irrtum der Kommission offensichtlich ist? (Vorlage an den EuGH)
Normenkette
EWGV 1798/75 Art. 3 Abs. 1; EWGV 3195/75 Art. 4 Abs. 6; EWGVtr Art. 177
Verfahrensgang
FG München (Entscheidung vom 11.09.1985; Aktenzeichen III 272/79 Z 1 und 2) |
Tatbestand
I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Universität) ließ am 14.Juli 1976 beim Beklagten und Revisionskläger (Hauptzollamt --HZA--) einen "Lock-in-Amplifier der Firma P/USA" zum freien Verkehr abfertigen. Das HZA beließ das Gerät zunächst nach Art.3 Abs.1 der Verordnung (EWG) Nr.1798/75 (VO Nr.1798/75) des Rates vom 10.Juli 1975 (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften --ABlEG-- L 184/1) zollfrei. Nach einer internen Überprüfung kam das HZA aufgrund der Kommissionsentscheidung 77/373/EWG vom 13.Mai 1977 (ABlEG L 140/27) zur Auffassung, daß die Voraussetzungen für eine Zollfreiheit nicht erfüllt seien, und forderte von der Universität mit Steuerbescheid vom 21.Oktober 1977 2 142,10 DM Zoll und 235,60 DM Einfuhrumsatzsteuer nach. Gegen diesen Steuerbescheid legte die Universität Einspruch ein. Im Einspruchsverfahren wurde ein Verfahren nach Art.4 Abs.3 bis 7 der Verordnung (EWG) Nr.3195/75 (VO Nr.3195/75) der Kommission vom 2.Dezember 1975 (ABlEG L 316/17) durchgeführt. Mit Entscheidung Nr.79/20/EWG vom 5.Dezember 1978 (ABlEG L 9/28 vom 13.Januar 1979) stellte die Kommission fest, daß das Gerät zwar wissenschaftlichen Charakter besitze, die Voraussetzungen nach Art.3 Abs.1 Buchst.b VO Nr.1798/75 jedoch nicht vorlägen. In der Begründung dieser Entscheidung heißt es, daß nach Auskunft der Mitgliedstaaten von der Firma B in Großbritannien Geräte von gleichem wissenschaftlichen Wert hergestellt würden. Das HZA wies daraufhin den Einspruch als unbegründet zurück.
Auf die Klage hob das Finanzgericht (FG) den Steuerbescheid und die Einspruchsentscheidung im wesentlichen mit folgender Begründung auf: Das Gerät besitze wissenschaftlichen Charakter i.S. von Art.3 Abs.1 Buchst.a VO Nr.1798/75, wie die EG-Kommission in ihrer Entscheidung anerkannt habe. Zur Zeit der Bestellung des Geräts durch die Universität sei aber in der Gemeinschaft kein Instrument, Apparat oder Gerät von gleichem wissenschaftlichen Wert hergestellt worden (Art.3 Abs.1 Buchst.b und Abs.3 VO Nr.1798/75). Das von der Kommission als gleichwertig bezeichnete Gerät eigne sich nicht für die wissenschaftlichen Zwecke, für die das eingeführte Gerät von der Universität vorgesehen gewesen sei. Als Forschungszweck habe die Universität den Nachweis von akustischen Phononen mit supraleitenden Tunnelkontakten und mit optischen Methoden bezeichnet. Das FG habe nach der Beweisaufnahme die Überzeugung gewonnen, daß dieser Forschungszweck bestimmte Eigenschaften voraussetze (niedriger Eingangswiderstand in der Größenordnung von wenigen Ohm; hohe Empfindlichkeit der Eingangsseite und dementsprechend eine geringe Eingangsrauschspannung von höchstens 50 pico-volt; geringe Schwankungen von Rauschfaktor und Verstärkungsgrad, insbesondere eine hohe Langzeitstabilität; gute Unterdrückung externer Störfaktoren), welchen Anforderungen das Vergleichsgerät nicht gerecht werde. Dieses sei ungeeignet, weil es keinen Transformator (als Einschub) besitze und der Lock-in-Verstärker mit einem hochohmigen Eingangswiderstand aufgrund der Versuchsanordnung nicht unmittelbar zur Abnahme der Meßsignale verwendet werden könne. Das Vergleichsgerät habe auch eine deutlich geringere Langzeitstabilität und bei ihm könnten Störfaktoren das Meßergebnis nachhaltig beeinflussen. Die Entscheidung der Kommission Nr.79/20/EWG vom 5.Dezember 1978, die zu einem gegenteiligen Ergebnis gekommen sei, sei für das FG nicht bindend. Diese Entscheidung verstoße auch gegen das Gemeinschaftsrecht und sei deshalb ungültig.
Das HZA hat Revision eingelegt.
Entscheidungsgründe
II. Im vorliegenden Fall stellt sich die Frage nach der Gültigkeit der Kommissionsentscheidung Nr.79/20/EWG vom 5.Dezember 1978. Der Senat ist daher nach Art.177 Abs.1 und 3 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWGV) zur Einholung einer Vorabentscheidung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) verpflichtet (vgl. auch Urteil des EuGH vom 22.Oktober 1987 Rs.314/85, amtlich noch nicht veröffentlicht).
Nach Art.3 Abs.1 Buchst.b VO Nr.1798/75 darf die zuständige nationale Zollbehörde Zollbefreiung für ein eingeführtes wissenschaftliches Gerät nur gewähren, sofern zur Zeit der Bestellung des Geräts (vgl. EuGH-Urteile vom 27.März 1985 Rs.4/84, EuGHE 85, 997, und vom 10.Dezember 1987 Rs.164/86, amtlich noch nicht veröffentlicht) kein Gerät von gleichem wissenschaftlichen Wert in der Gemeinschaft hergestellt worden ist. Konnte wie im vorliegenden Fall die Behörde keine entsprechende Entscheidung treffen, so hatte sie nach Art.4 Abs.2 VO Nr.3195/75 die Kommission einzuschalten. Trifft die Kommission wie hier eine negative Entscheidung (Art.4 Abs.6 Satz 1 VO Nr.3195/75), so ist, wie sich aus Art.4 VO Nr.3195/75 und dem Inhalt der Entscheidung ergibt, die nationale Zollbehörde an sie gebunden, d.h. gehindert, für das Gerät Zollfreiheit zu gewähren. Die Entscheidung im vorliegenden Verfahren hängt also davon ab, ob die genannte Kommissionsentscheidung gültig ist.
Nach den Feststellungen des FG ist die Kommissionsentscheidung 79/20/EWG vom 5.Dezember 1978 rechtlich fehlerhaft. Sie ist daher nach Auffassung des vorlegenden Gerichts ungültig, ohne daß es dabei darauf ankäme, ob der Tatsachen- oder Rechtsirrtum der Kommission offensichtlich ist. Der EuGH hat bisher anders entschieden (Urteile vom 27.September 1983 Rs.216/82, EuGHE 1983, 2771, 2789; vom 25.Oktober 1984 Rs.185/83, EuGHE 1984, 3623, 3636, und vom 21.Januar 1987 Rs.13/84, EuGHE 1987, 307, 311). Das vorlegende Gericht bittet den EuGH, diese Rechtsprechung zu überprüfen.
Die Entscheidung der zuständigen einzelstaatlichen Zollbehörde über die Gewährung einer Zollbefreiung nach Art.2 Abs.2 VO Nr.1798/75 ist eine Rechtsentscheidung. Der Zollbehörde steht kein Ermessensspielraum zu. Sind die Voraussetzungen der genannten Vorschrift erfüllt, so hat die Zollbehörde die Waren zollfrei zu lassen. Obwohl der Tatbestand des Art.3 Abs.1 VO Nr.1798/75 einige unbestimmte Rechtsbegriffe enthält, steht der Zollbehörde auch kein nicht der vollen gerichtlichen Kontrolle zugänglicher Beurteilungsspielraum zu. Auch die Feststellung der Tatsachengrundlage und die Anwendung der Begriffe des Art.3 Abs.1 VO Nr.1798/75 auf die im Einzelfall festgestellten Tatsachen durch die Zollbehörde unterliegen uneingeschränkt der gerichtlichen Nachprüfung. Daran ändert der Umstand nichts, daß die Prüfung durch die Zollbehörde einen weitgehend technischen Charakter hat. Auch beispielsweise die Entscheidungen über die Einreihung einer Ware in die Kombinierte Nomenklatur ist oft von gleicher technischer Natur, ohne daß die Auffassung vertreten werden könnte, die Gerichte dürften die entsprechende Verwaltungsentscheidung nur auf offensichtliche Fehler hin überprüfen.
Die Entscheidung der Kommission nach Art.4 Abs.6 VO Nr.3195/75 entspricht einer Entscheidung der einzelstaatlichen Zollbehörde. Sie ist für diese bindend. Sie muß daher in gleichem Umfang gerichtlich nachprüfbar sein wie die Entscheidung der einzelstaatlichen Zollbehörde. Die Entscheidung der Kommission ist rechtlich unrichtig und daher für ungültig zu erklären, wenn ihre Nachprüfung ergibt, daß sie auf einer unzutreffenden Auslegung des Art.3 Abs.1 VO Nr.1798/75 beruht oder der Kommission Fehler unterlaufen sind bei der Feststellung der Tatsachengrundlage oder der Anwendung der Begriffe der genannten Vorschrift auf die festgestellten Tatsachen.
Ob die Kommissionsentscheidung in diesem Sinne rechtmäßig ist, unterliegt nach Auffassung des vorlegenden Senats der uneingeschränkten Nachprüfung durch den EuGH. Eine nur eingeschränkte Nachprüfung im Sinne der bisherigen Rechtsprechung des EuGH würde bedeuten, daß eine rechtlich unrichtige negative Kommissionsentscheidung zum Nachteil der einführenden Institution Bestand behielte, nur weil die der Kommission unterlaufenen Fehler nicht offensichtlich sind. Je schwieriger die zu entscheidenden technischen Fragen sind, desto unangreifbarer wäre die entsprechende Kommissionsentscheidung. Es ist fraglich, ob eine solche Verkürzung des Rechtsschutzes des Marktbürgers vereinbar wäre mit dem nach Gemeinschaftsrecht geltenden rechtsstaatlichen Grundsatz der Gewährung effektiven Rechtsschutzes (vgl. auch Art.19 Abs.4, Art.20 Abs.3 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland).
Fundstellen
Haufe-Index 62687 |
BFHE 156, 291 |
BFHE 1989, 291 |
DB 1989, 1172 (KT) |
HFR 1989, 236 (LT) |