Entscheidungsstichwort (Thema)
Antrag auf Vorabentscheidung vom 17.07.1990 - VII R 106/88
Leitsatz (amtlich)
Ist der EuGH nur dann befugt, eine Kommissionsentscheidung wegen Tatsachen- oder Rechtsirrtums aufzuheben, wenn der Irrtum der Kommission offensichtlich ist? (Vorlage an den EuGH)
Orientierungssatz
Dem EuGH wird folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt: Ist die Kommissionsentscheidung vom 5. Juli 1983 83/348/EWG gültig (keine Einfuhr unter Zollbefreiung eines von einer Universität zu Forschungsaufgaben verwendeten Elektronenmikroskops, da in der Gemeinschaft zum Zeitpunkt der Einfuhr angeblich Geräte von gleichem wissenschaftlichen Wert, die zu den gleichen Zwecken verwendet werden könnten, hergestellt würden)?
Normenkette
EWGV 1798/75 Art. 3 Abs. 1; EWGV 2784/79 Art. 7 Abs. 2; EWGEntsch 348/83; EWGVtr Art. 177 Abs. 1, 3
Nachgehend
EuGH (Entscheidung vom 21.11.1991; Aktenzeichen C-269/90) |
Tatbestand
I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Universität) ließ am 1.Juni 1979, 5.Oktober 1979 und 23.März 1981 ein von der Fa.J in Tokio hergestelltes Raster-Elektronenmikroskop Modell X nebst Zubehör zum freien Verkehr abfertigen. Das Gerät war für Forschungsaufgaben der Fachbereiche Chemie, Biologie und Geowissenschaften der Universität bestimmt und sollte bei der Untersuchung elektrochemischer Prozesse, geologischer, mineralogischer und lebensmittelchemischer Probleme, von Kunststoffen, fotochemischen Emulsionen und biologischen Systemen verwendet werden. Der Beklagte und Revisionskläger (das Hauptzollamt ―HZA―) stellte das Gerät und das Zubehör zunächst vom Zoll frei. Mit den Bescheiden vom 14.April, 15.April und 22.Juni 1982 forderte das HZA dann Zölle in Höhe von 31 110,20 DM und darauf entfallende anteilige Einfuhrumsatzsteuer in Höhe von 3 746,50 DM nach. Zur Begründung berief es sich im wesentlichen auf die Entscheidung der Kommission vom 23.Dezember 1981 82/86/EWG (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften ―ABlEG― L 41/53 vom 12.Februar 1982). Im Einspruchsverfahren schaltete das HZA nach Art.7 Abs.2 der Verordnung (EWG) Nr.2784/79 (VO Nr.2784/79) der Kommission vom 12.Dezember 1979 (ABlEG L 318/32) die Kommission ein. Diese erließ die Entscheidung vom 5.Juli 1983 83/348/EWG (ABlEG L 188/22), nach der das Elektronenmikroskop nicht unter Zollbefreiung eingeführt werden könne, da in der Gemeinschaft zur Zeit Geräte von gleichem wissenschaftlichen Wert, die zu den gleichen Zwecken verwendet werden könnten, hergestellt würden, was insbesondere für das Gerät A der Fa.B gelte. Die Einsprüche der Klägerin hatten keinen Erfolg.
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt und hob die Steuerbescheide und die Einspruchsentscheidungen auf. Zur Begründung führte es im wesentlichen aus:
Das Gerät besitze wissenschaftlichen Charakter i.S. von Art.3 Abs.1 Buchst.a der Verordnung (EWG) Nr.1798/75 (VO Nr.1798/75) des Rates vom 10.Juli 1975 (ABlEG L 184/1). Zur Zeit der Bestellung des Geräts durch die Klägerin sei in der Gemeinschaft jedoch kein Gerät von gleichem wissenschaftlichen Wert hergestellt worden (vgl. Art.3 Abs.1 Buchst.b VO Nr.1798/75). Das in der Kommissionsentscheidung 83/348/EWG genannte Gerät der Fa.B könne nach der Überzeugung des FG für die wissenschaftlichen Zwecke der Klägerin nicht die gleichen Dienste leisten wie das eingeführte Gerät. Das FG begründet das unter Berücksichtigung der eingeholten Sachverständigengutachten ausführlich.
Der sich daraus ergebenden Zollfreiheit des eingeführten Elektronenmikroskops könne die gegenteilige Entscheidung der Kommission 83/348/EWG nicht entgegengehalten werden. Diese Entscheidung verstoße gegen Gemeinschaftsrecht und sei deshalb ungültig. Sie beruhe auf einem offensichtlichen Irrtum der Kommission bei der Beurteilung der tatsächlichen Voraussetzungen des Art.3 Abs.1 VO Nr.1798/75. Außerdem sei die Kommissionsentscheidung nicht allgemein verbindlich. Das FG sei Organ der Rechtsprechung und habe nach Recht und Gesetz zu entscheiden (Art.20 Abs.3, Art.97 Abs.1 des Grundgesetzes ―GG―). Das bedeute, daß es seinen Entscheidungen nur geltende Rechtsnormen zugrunde legen dürfe. Die Kommissionsentscheidung sei keine Rechtsnorm, sondern ein andersartiger Rechtsakt, dessen Verbindlichkeit auf die Mitgliedstaaten als seine Adressaten beschränkt sei.
Das HZA hat Revision mit folgender Begründung eingelegt: Nach dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) vom 22.Oktober 1987 Rs.314/85 (EuGHE 1987, 4225) seien die nationalen Gerichte für die Feststellung der Ungültigkeit von Handlungen der Gemeinschaft nicht zuständig. Das FG habe daher gegen Gemeinschaftsrecht verstoßen, indem es keine Vorabentscheidung des EuGH eingeholt habe.
Entscheidungsgründe
II. Im vorliegenden Fall stellt sich die Frage nach der Gültigkeit der Kommissionsentscheidung vom 5.Juli 1983 83/348/EWG. Der Senat ist daher nach Art.177 Abs.1 und 3 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWGV) zur Einholung einer Vorabentscheidung des Gerichtshofs verpflichtet (vgl. auch das vom HZA zitierte Urteil in EuGHE 1987, 4225). Er verweist im übrigen auf seine (inzwischen zurückgenommene) Vorlage (Beschluß vom 17.Januar 1989 VII R 56/86, BFHE 156, 291) in einem gleichgelagerten Fall (Rechtssache C-52/89).
Nach Art.3 Abs.1 Buchst.b VO Nr.1798/75 darf die zuständige nationale Zollbehörde Zollbefreiung für ein eingeführtes wissenschaftliches Gerät nur gewähren, sofern zur Zeit der Bestellung kein Gerät von gleichem wissenschaftlichen Wert in der Gemeinschaft hergestellt worden ist. Konnte, wie im vorliegenden Fall, die Behörde keine entsprechende Entscheidung treffen, so hatte sie nach Art.7 Abs.2 VO Nr.2784/79 die Kommission einzuschalten. Trifft die Kommission wie hier eine negative Entscheidung (Art.7 Abs.6 Unterabs.2 VO Nr.2784/79), so ist, wie sich aus Art.7 VO Nr.2784/79 ergibt, die nationale Zollbehörde an sie gebunden, d.h. gehindert, für das Gerät Zollfreiheit zu gewähren. Die Entscheidung im vorliegenden Verfahren hängt also davon ab, ob die Kommissionsentscheidung 83/348/EWG gültig ist.
Nach Auffassung des FG verstößt diese Entscheidung gegen Gemeinschaftsrecht und ist deshalb ungültig; sie beruhe auf einem offensichtlichen Irrtum der Kommission bei der Beurteilung der tatsächlichen Voraussetzungen des Art.3 Abs.1 VO Nr.1798/75 hinsichtlich der Gemeinschaftsschutzklausel. Wenn der Gerichtshof dieser Auffassung folgt, so ist er gehalten, die Kommissionsentscheidung für ungültig zu erklären. Für den Fall aber, daß der Gerichtshof zur Auffassung gelangen sollte, die Kommissionsentscheidung sei deswegen nicht ungültig, weil jedenfalls kein offensichtlicher Beurteilungsfehler und kein Ermessensmißbrauch vorliege, bittet ihn der Senat, seine bisherige Rechtsprechung zu überprüfen.
Der Gerichtshof hat bisher in ständiger Rechtsprechung entschieden, daß er im Rahmen einer solchen Prüfung nur über eine begrenzte Kontrollbefugnis verfüge; er könne also in Anbetracht des technischen Charakters der Prüfung der Frage, ob eine Gleichwertigkeit zwischen verschiedenen Geräten vorliege, den Inhalt einer entsprechenden Kommissionsentscheidung nur im Fall eines offensichtlichen Beurteilungsfehlers oder eines Ermessensmißbrauchs beanstanden (vgl. zuletzt Urteil vom 15.März 1989 Rs.303/87, amtlich noch nicht veröffentlicht). Der Senat hat Zweifel, ob dieser Auffassung gefolgt werden kann.
Die Entscheidung der zuständigen einzelstaatlichen Zollbehörden über die Gewährung einer Zollbefreiung nach der VO Nr.1798/75 ist eine Rechtsentscheidung. Der Zollbehörde steht kein Ermessensspielraum zu. Sind die Voraussetzungen der genannten Vorschrift erfüllt, so hat die Zollbehörde die Waren zollfrei zu lassen. Obwohl der Tatbestand des Art.3 Abs.1 VO Nr.1798/75 einige unbestimmte Rechtsbegriffe enthält, steht der Zollbehörde auch kein der vollen gerichtlichen Kontrolle entzogener Beurteilungsspielraum zu. Auch die Feststellung der Tatsachengrundlage und die Anwendung der Begriffe des Art.3 Abs.1 VO Nr.1798/75 auf die im Einzelfall festgestellten Tatsachen durch die Zollbehörde unterliegen uneingeschränkt der gerichtlichen Nachprüfung. Daran ändert der Umstand nichts, daß die Prüfung durch die Zollbehörde einen weitgehend technischen Charakter hat. Auch beispielsweise die Entscheidungen über die Einreihung einer Ware in die Kombinierte Nomenklatur ist oft von gleicher technischer Natur, ohne daß die Auffassung vertreten werden könnte, die Gerichte dürften die entsprechende Verwaltungsentscheidung nur auf offensichtliche Fehler hin überprüfen.
Die Entscheidung der Kommission nach Art.7 Abs.6 VO Nr.2784/79 entspricht einer Entscheidung der einzelstaatlichen Zollbehörde. Sie ist aufgrund von Gemeinschaftsrecht für diese bindend. Sie muß daher in gleichem Umfang gerichtlich nachprüfbar sein wie die Entscheidung der einzelstaatlichen Zollbehörde. Sie ist rechtlich unrichtig und daher für ungültig zu erklären, wenn ihre Nachprüfung ergibt, daß sie auf einer unzutreffenden Auslegung des Art.3 Abs.1 VO Nr.1798/75 beruht oder der Kommission Fehler unterlaufen sind bei der Feststellung der Tatsachengrundlage oder der Anwendung der Begriffe der genannten Vorschrift auf die festgestellten Tatsachen. Auch wenn die der Kommission unterlaufenen Beurteilungsfehler nicht offensichtlich sein sollten, ergibt sich eine Rechtswidrigkeit der Entscheidung, die zur Erklärung der Ungültigkeit führen muß.
Ob die Kommissionsentscheidung in diesem Sinne rechtmäßig ist, unterliegt nach Auffassung des Senats der uneingeschränkten Nachprüfung durch den Gerichtshof. Eine nur eingeschränkte Nachprüfung im Sinne der bisherigen Rechtsprechung des EuGH würde bedeuten, daß eine rechtlich unrichtige, den Marktbürger belastende Kommissionsentscheidung Bestand behielte, nur weil die der Kommission unterlaufenen Fehler nicht offensichtlich sind. Je schwieriger die zu entscheidenden technischen Fragen sind, desto unangreifbarer wäre die entsprechende Kommissionsentscheidung. Es ist fraglich, ob eine solche Verkürzung des Rechtsschutzes des Marktbürgers vereinbar wäre mit dem nach Gemeinschaftsrecht geltenden rechtsstaatlichen Grundsatz der Gewährung effektiven Rechtsschutzes (vgl. auch Art.19 Abs.4, Art.20 Abs.3 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland).
Fundstellen
Haufe-Index 63375 |
BFH/NV 1990, 79 |
BFHE 161, 234 |
BB 1990, 1898 (L) |
HFR 1991, 9 (LT) |
StE 1990, 360 (K) |