Entscheidungsstichwort (Thema)
Fortgeltung verfassungswidriger Normen zum Betreuungs- und Erziehungsbedarf von Kindern
Leitsatz (NV)
Stellt das BVerfG die Unvereinbarkeit einer Norm mit dem GG fest, erlaubt aber zugleich deren weitere Anwendbarkeit, so handelt es sich nicht um eine verfassungsrechtlich unzulässige Rechtssetzung durch das BVerfG, sondern um eine Einschränkung der Nichtigkeit.
Normenkette
BVerfGG § 31 Abs. 2, § 78; EStG §§ 32, 33c; GG Art. 6
Verfahrensgang
FG München (Urteil vom 25.04.2007; Aktenzeichen 9 K 1719/05) |
Tatbestand
I. Die zur Einkommensteuer zusammen veranlagten Kläger und
Beschwerdeführer (Kläger) haben vier gemeinsame Kinder, die zwischen 1993 und 1999 geboren wurden. Gegen die Einkommensteuerbescheide für die Streitjahre 2001 und 2002, in denen der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--) die Freibeträge nach § 32 Abs. 6 des Einkommensteuergesetzes (EStG) berücksichtigte, legten sie ohne Erfolg Einsprüche ein und begehrten, einen höheren Anteil der Einkünfte zur Deckung des notwendigen Betreuungs- und Erziehungsbedarfs ihrer Kinder steuerfrei zu belassen.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab, mit der ein Gesamtbedarf für die vier Kinder gemäß § 32 Abs. 6 EStG in Höhe von insgesamt 62 000 DM (2001) und 31 000 € (2002) geltend gemacht wurde, und ließ die Revision nicht zu.
Mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde berufen sich die Kläger auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) habe mit seiner Entscheidung vom 10. November 1998 2 BvR 980/91 u.a. (BVerfGE 99, 216, BStBl II 1999, 182) § 33c Abs. 1 bis 4 und § 32 Abs. 3, 4, 7 EStG i.d.F. für die Streitjahre 2001 und 2002 als mit Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 des Grundgesetzes (GG) unvereinbar erklärt. Der Annahme des FG, dass neben der Unvereinbarkeitserklärung des BVerfG auch dessen Anordnung der befristeten Weitergeltung Gesetzeskraft zukomme, könne nicht gefolgt werden. Die Anordnung der Fortgeltung eines verfassungswidrigen Gesetzes wäre primäre Rechtssetzung, zu der weder das GG noch das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht (BVerfGG) dem BVerfG die Kompetenz einräumten. Zudem würde es sich wegen der Verfassungswidrigkeit der jeweiligen Normen um die Setzung materiell verfassungswidrigen Rechts handeln.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde ist unbegründet, sie wird durch Beschluss zurückgewiesen (§ 116 Abs. 5 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
Die Frage der befristeten Fortgeltung von Normen, welche das BVerfG als mit dem GG unvereinbar erklärt hat, hat keine grundsätzliche Bedeutung (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO). Sie ist nicht klärungsbedürftig, da sich die Antwort ohne weiteres aus dem Gesetz ergibt (Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 115 Rz 28). Denn § 31 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG sieht ausdrücklich vor, dass die auf eine Verfassungsbeschwerde hin ergangene Entscheidung des BVerfG (§ 13 Nr. 8a BVerfGG) --wie im Streitfall der Beschluss in BVerfGE 99, 216, BStBl II 1999, 182-- auch Gesetzeskraft erlangt, soweit ein Gesetz als mit dem GG unvereinbar erklärt wird (vgl. dazu Heusch in Umbach/ Clemens/Dollinger, BVerfGG, Mitarbeiterkommentar, 2. Aufl. 2005, § 31 Rz 82, m.w.N.). Stellt das BVerfG die Unvereinbarkeit einer Norm mit dem GG fest, erlaubt aber zugleich deren weitere Anwendbarkeit, so handelt es sich nicht --wie die Kläger meinen-- um eine Rechtssetzung durch das BVerfG, sondern um eine Einschränkung der Nichtigkeit (M. Graßhof in Umbach/Clemens/Dollinger, a.a.O., § 78 Rz 38).
Fundstellen
Haufe-Index 2081449 |
BFH/NV 2009, 143 |