Entscheidungsstichwort (Thema)
Voreingenommenheit eines Richters
Leitsatz (NV)
Die Beurteilung der Voreingenommenheit eines Richters ist eine Rechtsfrage. Die Einholung des Gutachtens eines Sachverständigen zu dieser Frage kommt deshalb nicht in Betracht.
Das Faktum, daß die Berichterstatterin die Steuerakten durchgearbeitet und als Folge davon eine Reihe von Fragen gestellt und Nachweise und Unterlagen angefordert hat, begründet nicht den Vorwurf der Voreingenommenheit. Es entspricht dem im Prozeß vor dem FG herrschenden Untersuchungsgrundsatz, daß der Richter die Steuerakten durcharbeitet und -- unabhängig von der Beurteilung durch das FA -- prüft, ob die vom Steuerpflichtigen angefochtene Steuerfestsetzung gerechtfertigt ist.
Die Anordnung, binnen einer Frist von 14 Tagen Fragen zu beantworten und Unterlagen und Nachweise vorzulegen, welche sich im Bereich des Steuerpflichtigen befinden, ist nicht von vornherein auf ein objektiv unmögliches Tun gerichtet. Selbst wenn die Frist aus der Sicht der Kläger zu kurz bemessen war, so läßt dies bei objektiver Betrachtung noch keinen Schluß auf eine unsachliche Einstellung der Berichterstatterin ihnen gegenüber zu.
Normenkette
FGO § 51 Abs. 1; ZPO § 42 Abs. 2
Tatbestand
Die Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) sind Eheleute, die für 1991 und 1992 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt wurden. Sie erhoben folgende Klagen beim Finanzgericht (FG): am 22. Juli 1994 gegen den Einkommensteuer-Vorauszahlungsbescheid 1992 (Az. 4616/94), am 2. Dezember 1994 gegen den Einkommensteuerbescheid 1992 und dessen Aufteilung (Az. 7213/94), am 2. Februar 1995 gegen den Einkommensteuerbescheid 1991 und dessen Aufteilung (Az. 635/95) und am 17. März 1995 gegen die Festsetzung von Verspätungszuschlägen zur Einkommensteuer 1991 und 1992 (Az. 1863/95). Kurze Zeit nach Eingang der Klagen in den Sachen 4616/94, 7213/94 und 635/95 bat die Geschäftsstelle des zuständigen Senats den Prozeßbevollmächtigten der Kläger, die Klage zu begründen. Mit Verfügungen vom 16. Januar 1995 und 19. Januar 1995 forderte die Berichterstatterin den Prozeßbevollmächtigten der Kläger gemäß § 65 Abs. 2 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) in den Verfahren 4616/94 und 7213/94 auf, binnen einer Ausschlußfrist von vier Wochen bzw. einem Monat den Gegenstand des Klagebegehrens zu bezeichnen. In dem Verfahren 1863/95 setzte die Berichterstatterin mit Verfügung vom 20. Juni 1995 eine Ausschlußfrist bis 5. Juli 1995 zur Bezeichnung des Gegenstands des Klagebegehrens. Ebenfalls mit Verfügungen vom 20. Juni 1995 gab sie dem Klägervertreter in den Verfahren 7213/94 und 635/95 gemäß § 79 b FGO auf, einige Fragen betreffend die Einkünfte aus selbständiger Arbeit und Vermietung und Verpachtung zu beantworten und weitere Unterlagen -- auch in bezug auf die Schwerbehinderung des Sohnes -- bis zum 5. Juli 1995 vorzulegen. Die Verfügungen vom 20. Juni 1995 wurden dem Prozeßbevollmächtigten der Kläger gleichzeitig mit den Ladungen vom 21. Juni 1995 zugestellt. Als Termin zur mündlichen Verhandlung in den genannten Streitsachen sowie einer weiteren Streitsache des Klägers war der 11. Juli 1995, 10 Uhr, bestimmt.
Mit Schriftsätzen vom 5. Juli 1995 lehnten die Kläger die Berichterstatterin wegen Besorgnis der Befangenheit ab. Sie trugen im wesentlichen vor, die kurzfristige Terminierung auf den 11. Juli 1995 lasse nur den Schluß zu, daß entschieden werden solle, ohne daß eine Begründung vorliege. Innerhalb der Ausschlußfrist bis 5. Juli 1995 könne den Auskunfts- und Belegforderungen nicht nachgekommen werden. Es sollten hier offenbar zusammenhängende oder parallel laufende Verfahren ein und desselben Steuerpflichtigen verfahrenstechnisch abgewürgt werden.
Das FG habe über Monate nicht mitgeteilt, daß die Steuerakten, die der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt -- FA --) laut Mitteilung vom 9. Januar 1995 zunächst nicht habe übersenden können, bereits am 27. März 1995 beim FG eingegangen gewesen seien. Die Berichterstatterin habe diese Akten zwischenzeitlich studiert und daraufhin über den Vortrag des FA hinaus Ermittlungsbedarf gesehen. Sinn und Zweck der mündlichen Verhandlung sollten hier keine Sachaufklärung sein, sondern eine Art Maßregelung. So wie die Verfahren hier zusammengeballt durchgepeitscht werden sollten, müsse davon ausgegangen werden, daß die Richterin nicht unvoreingenommen, sondern unsachlich und willkürlich entscheiden werde.
In ihrer dienstlichen Stellungnahme zu den Befangenheitsanträgen hat die Berichterstatterin erklärt, sie halte sich in den genannten Verfahren nicht für befangen. Sie habe eine Frist von zwei Wochen für die Vorlage der angeforderten Unterlagen für angemessen gehalten. Sie sei davon ausgegangen, daß die Unterlagen dem Prozeßbevollmächtigten vorlägen; denn die Einkommensteuerer klärung 1991 sei bereits im Vorverfahren abgegeben worden, und die Übersendung der Einkommensteuererklärung 1992 habe der Prozeßbevollmächtigte mit Schriftsatz vom 20. Februar 1995 angekündigt. Das Schreiben des FA vom 22. März 1995, mit dem es die Aktenübersendung mitgeteilt habe, sei ver sehentlich den Klägern nicht zur Kenntnis gebracht worden; dies sei mit der Ladung nachgeholt worden. Beim Studium der Steuerakten, auf welche der Prozeßbevollmächtigte zur Begründung seiner Klage Bezug genommen habe, hätten sich Rückfragen ergeben. Zur Begründung der Klagen sollte im übrigen auch noch in der mündlichen Verhandlung Gelegenheit gegeben werden. Die Verfahren seien zusammen terminiert worden, um den Beteiligten eine mehrmalige Anreise zum FG zu ersparen.
Das FG (ohne Mitwirkung der abgelehnten Richterin) hat die Anträge der Kläger auf Ablehnung der Berichterstatterin mit Beschlüssen vom 10. Juli 1995 abgelehnt. Es führt im wesentlichen aus, ein Grund, der Mißtrauen in die Unparteilichkeit der Richterin rechtfertige, liege nicht vor. Eine Ausschlußfrist von zwei Wochen zur Vorlage von Unterlagen, die schon im Vorverfahren mehrfach angefordert worden seien und dem Prozeßbevollmächtigten oder seinem Mandanten vorliegen müßten, erscheine nicht von vornherein zu kurz. Auch ohne besondere Mitteilung müsse davon ausgegangen werden, daß das Gericht die Steuerakten alsbald anfordern werde. Die Zusammenfassung mehrerer Verfahren derselben Beteiligten sei sachgerecht.
Die Beschlüsse wurden dem Prozeßbevollmächtigten der Kläger jeweils zu Beginn der mündlichen Verhandlung am 11. Juli 1995 zur Kenntnis gebracht. Er legte dagegen jeweils zur Niederschrift im Protokoll über die mündliche Verhandlung und schriftsätzlich am 25. Juli 1995 Beschwerde ein.
Nach Durchführung der mündlichen Verhandlung, an welcher die erfolglos abgelehnte Berichterstatterin mitwirkte, hat das FG in den Streitsachen 4616/94 und 1863/95 die Klagen durch Urteile vom 11. Juli 1995 abgewiesen und in den Streitsachen 7213/94 und 635/95 die mündliche Verhandlung vertagt. Das FG hat den Beschwerden nicht abgeholfen.
Die Kläger machen unter Bezugnahme auf ihren bisherigen Vortrag zur Begründung der Beschwerden im wesentlichen geltend, der Eindruck einer willkürlichen Erledigung des Verfahrens habe sich noch dadurch verstärkt, daß das Verhandlungsprotokoll in zwei Punkten zu ihrem Nachteil verfremdet gewesen sei, was zu einem Antrag auf Protokollberichtigung geführt habe. Bei Terminierung und Setzen von Ausschlußfristen sei der Bericht erstatterin bekannt und bewußt gewesen, daß ihnen wesentlicher Akteninhalt, der auch noch Akteneinsichtnahme erforderlich machen würde, nicht bekannt gewesen sei. Die Fristsetzung in allen Verfahren sei verfahrenstechnische Willkür, die sie und ihren Prozeßbevollmächtigten absolut überfordert hätte. Das Verfahren sei willkürlich zu ihren Lasten betrieben worden, nachdem wesentlicher Vortrag der Gegenseite monatelang bei Gericht gehortet werde, um erst zusammen mit einer Ladung und Setzung von Ausschlußfristen übersandt zu werden. All das begründe die Besorgnis der Befangenheit in Form der Voreingenommenheit zugunsten des FA.
Die Kläger beantragen, die Beschlüsse des FG vom 10. Juli 1995 aufzuheben und die Berichterstatterin für befangen zu erklären.
Das FA beantragt, die Beschwerden zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerdeverfahren werden gemäß § 121, § 73 Abs. 1 FGO zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.Ü
ber die jeweils mehrfach eingelegten Beschwerden der Kläger ist einheitlich zu entscheiden (Beschluß des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 12. August 1986 IX B 56/96, BFH/NV 1987, 52). Sie sind zulässig. Sowohl die Beschwerden vom 11. Juli 1995 -- vor dem FG zu Protokoll gegeben (vgl. BFH-Beschluß vom 27. September 1994 VIII B 64 --76/94, BFH/NV 1995, 526) -- wie auch vom 25. Juli 1995 sind gemäß § 129 Abs. 1 FGO form- und fristgerecht eingelegt worden. Daß das FG in den Streitsachen 1863/95 und 4616/94 unter Mitwirkung der erfolglos abgelehnten Berichterstatterin in der Sitzung vom 11. Juli 1995 zur Hauptsache entschieden hat, steht der Zulässigkeit der diese Verfahren betreffenden Beschwerden nicht entgegen (ständige Rechtsprechung seit dem Beschluß des Großen Senats vom 30. November 1981 GrS 1/80, BFHE 134, 525, BStBl II 1982, 217).
Die Beschwerden sind unbegründet. Das FG hat die Ablehnungsgesuche zutreffend als unbegründet zurückgewiesen.
Gemäß § 51 Abs. 1 FGO i. V. m. § 42 Abs. 2 der Zivilprozeßordnung findet die Ablehnung eines Richters wegen Besorgnis der Befangenheit statt, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Mißtrauen gegen seine Unparteilichkeit zu rechtfertigen. Gründe für ein solches Mißtrauen sind gegeben, wenn ein Beteiligter von seinem Standpunkt aus bei vernünftiger, objektiver Betrachtung davon ausgehen kann, daß der Richter nicht unvoreingenommen entscheiden werde. Unerheblich ist dabei, ob tatsächlich die Entscheidung durch Voreingenommenheit beeinflußt wurde; ausschlaggebend ist, ob der Beteiligte von seinem Standpunkt aus bei Anlegung des angeführten objektiven Maßstabs Anlaß hat, Voreingenommenheit zu befürchten (ständige Rechtsprechung, z. B. BFH-Beschlüsse vom 4. Juli 1985 V B 3/85, BFHE 144, 144, BStBl II 1985, 555; vom 2. April 1992 XI R 7/85, BFH/NV 1992, 760; vom 24. Juli 1992 VI B 109/91, BFH/NV 1993, 41; vom 11. Januar 1995 IV B 104/93, BFH/NV 1995, 629). Die Beurteilung der Voreingenommenheit ist eine Rechtsfrage. Die von den Klägern angebotene Einholung des Gutachtens eines Sachverständigen kommt nicht in Betracht.
Soweit die Kläger die Anberaumung nur einer mündlichen Verhandlung für ihre insgesamt fünf beim FG anhängigen Verfahren rügen, ist eine Befangenheit der Berichterstatterin deshalb nicht zu besorgen, weil die Terminierung der mündlichen Verhandlung vor dem Senat dem Vorsitzenden obliegt (vgl. BFH-Beschluß vom 18. Januar 1993 X B 5/92, BFH/NV 1994, 106). Im übrigen sprechen Gründe der Verfahrensökonomie dafür, für Streitsachen, die -- wie die genannten Verfahren -- bis zu einem gewissen Grad zusammenhängen, eine mündliche Verhandlung anzusetzen.
Die von der Berichterstatterin gesetzten Ausschlußfristen vermögen eine Besorgnis der Befangenheit nicht zu rechtfertigen; die Richterin hat damit von den ihr gesetzlich zustehenden Befugnissen sachgerecht Gebrauch gemacht (vgl. BFH-Beschluß in BFH/NV 1995, 527, m. w. N.). Weder die Bemessung der Fristen noch die gleichzeitige Anordnung in drei Verfahren noch der Inhalt der Anordnungen lassen einen dem Gesetzeszweck widersprechenden Gebrauch der dem Richter eingeräumten Befugnisse nach §§ 65, 79 b FGO erkennen. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die Kläger -- trotz Aufforderung durch die Geschäftsstelle in den Verfahren 4616/94, 7213/94 und 635/95 -- ihre Klagen nicht begründet haben. Auch soweit die Kläger vortragen, daß die Berichterstatterin die Steuerakten durchgearbeitet und als Folge davon eine Reihe von Fragen gestellt und Nachweise und Unterlagen angefordert hat, ist der Vorwurf der Voreingenommenheit nicht begründet. Es entspricht dem im Prozeß vor dem FG herrschenden Untersuchungsgrundsatz, daß der Richter die Steuerakten durcharbeitet und -- unabhängig von der Beurteilung durch das FA -- prüft, ob die vom Steuerpflichtigen angefochtene Steuerfestsetzung gerechtfertigt ist. Die Anordnung, binnen einer Frist von 14 Tagen Fragen zu beantworten und Unterlagen und Nachweise vorzulegen, welche sich im Bereich des Steuerpflichtigen befinden, ist nicht von vornherein auf ein objektiv unmögliches Tun gerichtet. Selbst wenn die Frist aus der Sicht der Kläger zu kurz bemessen war, so läßt dies bei objektiver Betrachtung noch keinen Schluß auf eine unsachliche Einstellung der Berichterstatterin ihnen gegenüber zu. Dies gilt auch für den Vorwurf der Kläger, die Berichterstatterin habe die Verfahren "durchpeitschen" und "abwürgen" wollen. Gegen diese Behauptung der Kläger spricht bereits, daß die Verfahren von drei Monaten bis zu elf Monaten anhängig waren, ohne daß die Klagen begründet wurden. Schließlich läßt sich aus der nachgeholten Mitteilung im Verfahren 7213/94, daß das FA die Akten dem Gericht vorgelegt habe, eine Befangenheit der Berichterstatterin nicht herleiten. Abgesehen davon, daß die Übersendung der Steuerakten 1991 und 1992 an das FG dem Bevollmächtigten der Kläger aus den ihm am 11. April 1995 bzw. 4. Mai 1995 übersandten Stellungnahmen des FA vom 20. März 1995 in der Sache 4616/94 und vom 19. April 1995 in der Sache 1863/95 bekannt sein mußte, ist die Annahme der Kläger, die Voreingenommenheit der Berichterstatterin ergebe sich daraus, daß sie Ausschlußfristen gesetzt habe, obgleich ihr bewußt gewesen sei, daß ihnen der wesentliche Inhalt der Steuerakten nicht bekannt sei, objektiv nicht nachvollziehbar.
Fundstellen
Haufe-Index 422017 |
BFH/NV 1997, 503 |