Entscheidungsstichwort (Thema)
Keine Anwendung des § 128 Abs. 2 ZPO auf die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nach § 90 Abs. 2 FGO
Leitsatz (NV)
Die Vorschriften über das schriftliche Verfahren in § 128 Abs. 2 ZPO (Schriftsatzfrist, Bestimmung des Verkündungstermins, Entscheidungsfrist) finden auf die Entscheidung des FG ohne mündliche Verhandlung keine Anwendung.
Normenkette
FGO § 90 Abs. 2, § 115; ZPO § 128 Abs. 2
Tatbestand
Die Klage des Klägers und Beschwerde führers (Kläger) gegen den angefochtenen Haftungsbescheid wurde durch das im Einvernehmen mit den Beteiligten ohne mündliche Verhandlung in der Sitzung vom ... Juni 1994 ergangene Urteil des Finanzgerichts (FG) abgewiesen.
Mit der Nichtzulassungsbeschwerde rügt der Kläger die Verletzung rechtlichen Gehörs. Er trägt vor, das Einverständnis zu einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung sei von seinem früheren Prozeßbevollmächtigten, der später verstorben sei, mit Schriftsatz vom ... April 1993 erteilt worden. Mit Verfügung des Gerichts vom ... März 1994 sei seinen nunmehrigen Prozeßbevollmächtigten mitgeteilt worden, die Sache solle -- voraussichtlich im schriftlichen Verfahren -- in Kürze entschieden werden. Sodann sei für ihn und seine Prozeßbevollmächtigten völlig überraschend am ... Juni 1994 das Urteil verkündet worden.
Das Verfahren des FG verstoße in mehr facher Hinsicht gegen die Bestimmungen über das schriftliche Verfahren in § 128 Abs. 2 der Zivilprozeßordnung (ZPO), die gemäß § 155 der Finanzgerichtsordnung (FGO) auch im finanzgerichtlichen Verfahren anzuwenden seien. Das Gericht habe weder den Zeitpunkt, bis zu dem Schriftsätze eingereicht werden konnten, noch den Termin zur Verkündung der Entscheidung bestimmt (§ 128 Abs. 2 Satz 2 ZPO). Vielmehr habe es in der Verfügung vom ... März 1994 die Möglichkeit einer mündlichen Verhandlung offengelassen. Das ohne mündliche Verhandlung ergangene Urteil stelle deshalb eine Überraschungsentscheidung dar; das rechtliche Gehör sei verletzt worden, weil ihm keine Frist zur Ergänzung seines Vortrags gesetzt worden sei. Da seit der Zustimmung seines früheren Prozeß bevollmächtigten zur Entscheidung ohne mündliche Verhandlung mehr als drei Monate verstrichen seien, habe das FG nicht mehr im schriftlichen Verfahren entscheiden dürfen (§ 128 Abs. 2 Satz 3 ZPO).
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist nicht begründet. Die geltend gemachten Verfahrensmängel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) liegen nicht vor.
Das FG konnte gemäß § 90 Abs. 2 FGO ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten sich mit einer solchen Entscheidung einverstanden erklärt hatten. Der Tod des früheren Prozeßbevollmächtigten hatte keinen Einfluß auf die Wirksamkeit des von diesem für den Kläger erklärten Verzichts auf mündliche Verhandlung (vgl. Beschluß des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 28. Februar 1991 V R 117/85, BFHE 163, 410, BStBl II 1991, 466; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 15. Aufl., § 90 FGO Tz. 3 c).
Das Urteil stellt keine Überraschungsentscheidung für den Kläger dar, zumal seine Prozeßbevollmächtigten mit Verfügung des Gerichts vom ... März 1994 darauf hingewiesen worden sind, daß die Sache "in Kürze" -- voraussichtlich im schrift lichen Verfahren -- entschieden werden solle. Im Hinblick auf die vorliegende Verzichtserklärung und die angeführte gerichtliche Verfügung konnte der Kläger nicht davon ausgehen, daß doch Termin zur mündlichen Verhandlung anberaumt werde.
Es ist auch keine Verletzung des recht lichen Gehörs (§ 96 Abs. 2 FGO) darin zu sehen, daß das FG den Kläger nicht vor seiner Entscheidung ausdrücklich unter Fristsetzung zur Ergänzung des Sachvortrags aufgefordert hat, denn eine Ergänzungsbedürftigkeit des klägerischen Vorbringens, die dem FG erkennbar gewesen sein könnte, ist nicht ersichtlich. Das FG war nicht durch § 155 FGO verpflichtet, nach der Vorschrift des § 128 Abs. 2 ZPO zu verfahren, die für den Fall einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung vorsieht, daß das Gericht den Zeitpunkt, bis zu dem Schriftsätze eingereicht werden können, sowie den Termin zur Verkündung der Entscheidung bestimmt. Denn das Verfahren des FG beim Verzicht auf mündliche Verhandlung unterscheidet sich grundsätzlich von dem Verfahren eines Zivilgerichts nach § 128 Abs. 2 ZPO. Es beruht im Gegensatz zu diesem auf der amtlichen Ermittlungspflicht (§ 76 FGO), mißt daher den Schriftsätzen der Beteiligten keine ausschlaggebende Bedeutung bei (vgl. § 77 Abs. 1 FGO), sieht einen Widerruf des Verzichts auf mündliche Verhandlung nicht vor (vgl. § 90 Abs. 2 FGO) und gestattet dem Gericht, das Urteil nicht zu verkünden, sondern den Beteiligten zuzustellen (vgl. § 104 Abs. 3 FGO; ebenso: Senat in Urteil vom 4. April 1978 VII R 100/77, BFHE 125, 228, BStBl II 1978, 511, 512, und Beschluß vom 11. August 1987 VII B 165/86, BFH/NV 1988, 310). Aus den vorstehenden Gründen ist auch § 128 Abs. 2 Satz 3 ZPO, wonach eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung unzulässig ist, wenn seit der Zustimmung der Parteien mehr als drei Monate verstrichen sind, im finanzgerichtlichen Verfahren nicht anwendbar (Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., § 90 Rz. 21).
Soweit die Beschwerde auf materiell-rechtliche Erwägungen gestützt wird, ist ein Zulassungsgrund i. S. des § 115 Abs. 2 Nrn. 1 bis 3 FGO weder dargelegt worden noch ersichtlich. Etwaige Fehler in der tatsäch lichen oder rechtlichen Würdigung des FG können die Zulassung der Revision nicht begründen.
Fundstellen
Haufe-Index 420520 |
BFH/NV 1995, 807 |