Entscheidungsstichwort (Thema)
Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter
Leitsatz (NV)
§ 6 Abs. 1 FGO berechtigt, den Rechtsstreit dem Einzelrichter zur Entscheidung zu übertragen. Die Regelung verstößt nicht gegen Verfassungsrecht, insbesondere nicht gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.
Die Unterlassung der Anhörung der Beteiligten begründet nicht eine zulassungsfreie Revision nach § 116 Abs. 1 Nr. 1 FGO. Bei Übertragung ist die namentliche Benennung des Einzelrichters nicht notwendig.
Normenkette
FGO § 6 Abs. 1, § 116 Abs. 1 Nr. 1; GG Art. 101 Abs. 1 S. 2
Tatbestand
I. Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) erzielten im Streitjahr 1992 Einkünfte aus nichtselbständiger Tätigkeit. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt ―FA―) zog erklärungsgemäß Werbungskosten in Höhe von 4 864 DM ab. Die als Sonderausgaben geltend gemachten Versicherungsbeiträge in Höhe von 17 219 DM berücksichtigte das FA gemäß § 10 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) mit dem Höchstbetrag von 7 020 DM. Der Bescheid erging hinsichtlich des Solidaritätszuschlags, des Arbeitnehmer-Pauschbetrags (§ 9a Nr. 1 EStG), der beschränkten Abziehbarkeit von Vorsorgeaufwendungen (§ 10 Abs. 3 EStG), der Nichtabziehbarkeit von privaten Schuldzinsen (§ 12 EStG) und des Kinderfreibetrags (§ 32 Abs. 6 EStG) vorläufig nach § 165 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO 1977).
Der Einspruch der Kläger wurde zurückgewiesen. Ihre Klage wies das Finanzgericht (FG) als unzulässig ab. Die Vorläufigkeitsvermerke trügen dem Anliegen der Kläger Rechnung, die Bescheide nicht ―materiell― bestandskräftig werden zu lassen. Ein Klageverfahren diene nicht dazu, einen Steuerbescheid möglichst lange offenzuhalten, um weitere Streitpunkte in das Verfahren einführen zu können. Schließlich bestehe kein Anlaß, das Verfahren im Hinblick auf eine vom Kläger behauptete Verfassungswidrigkeit des § 165 AO 1977 auszusetzen.
Mit der Revision rügen die Kläger Verletzung von Bundesrecht, insbesondere der Art. 101 und 103 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) sowie der §§ 119 Nr. 1 und 6, 74 der Finanzgerichtsordnung (FGO); sie tragen im wesentlichen vor:
1. Die Sache sei ohne Namensnennung und ohne Gewährung rechtlichen Gehörs auf den Einzelrichter übertragen worden. Die Vorschrift des § 6 FGO sei verfassungsrechtlich bedenklich. Bei der Bestimmung des zuständigen Richters dürfe kein Ermessen eingeräumt werden. Unter Berücksichtigung dieser Bedenken sei das Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen.
Die Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) I R 70/94 begnüge sich unter Bezugnahme auf den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts ―BVerfG― (Vorprüfungsausschuß) vom 22. September 1983 2 BvR 1475/83 (Neue Juristische Wochenschrift 1984, 559) mit der lapidaren Feststellung, daß § 6 FGO verfassungsgemäß sei.
2. Die Entscheidungsgründe enthielten keine Ausführungen zur Beauftragung eines Einzelrichters; die Entscheidung verstoße daher gegen § 119 Nr. 6 FGO.
3. Vorsorglich werde die Besetzung des entscheidenden BFH-Senats gerügt; der senatsinterne Mitwirkungsplan entspreche nicht rechtsstaatlichen Grundsätzen; das Verfahren sei bis zur Entscheidung des BVerfG über die Art. 101 GG i.V.m. § 21g Abs. 2 des Gerichtsverfassungsgesetzes betreffenden Verfassungsbeschwerden auszusetzen.
4. Wegen der fehlerhaften Sachbehandlung dürften nach § 8 des Gerichtskostengesetzes (GKG) keine Kosten erhoben werden.
Die Kläger beantragen, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Der BFH habe in ständiger Rechtsprechung die Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter nach § 6 FGO verfassungsrechtlich nicht beanstandet (BFH-Urteil vom 19. Januar 1994 II R 69/93, BFH/NV 1994, 725; BFH-Beschluß vom 19. Juli 1995 X R 41/94, BFH/NV 1996, 54).
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist gemäß § 124, § 126 Abs. 1 FGO durch Beschluß als unzulässig zu verwerfen. Die Revision ist nicht zugelassen worden. Der Fall einer zulassungsfreien Revision, insbesondere nach § 116 Abs. 1 Nr. 1 und 5 FGO, ist nicht gegeben.
1. Aus den vorgetragenen Tatsachen läßt sich die nicht vorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts nicht herleiten. Das FG war gemäß § 6 Abs. 1 FGO berechtigt, den Rechtsstreit einem seiner Mitglieder als Einzelrichter zur Entscheidung zu übertragen. Die Regelung verstößt nicht gegen Verfassungsrecht, insbesondere nicht gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG (BFH-Beschlüsse vom 10. September 1996 IV R 51/94, BFH/NV 1997, 242; vom 27. März 1998 X B 161/96, BFH/NV 1998, 1487, und X R 105/96, BFH/NV 1998, 1488, m.w.N.; Buciek, in Beermann, Steuerliches Verfahrensrecht, § 6 FGO Rz. 14 ff.).
Unabhängig von der Frage, ob eine vorherige Anhörung der Beteiligten, die in § 6 Abs. 1 FGO ―im Unterschied zu § 6 Abs. 3 FGO― nicht vorgesehen ist, geboten ist (vgl. dazu Urteil des FG Baden-Württemberg vom 16. Oktober 1997 10 K 130/97, Entscheidungen der Finanzgerichte 1998, 124, Revision IX R 94/97; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 16. Aufl., § 6 FGO Tz. 9; Buciek, a.a.O., Rz. 27 f.), könnte ihre Unterlassung nicht die zulassungsfreie Revision gemäß § 116 Abs. 1 Nr. 1 FGO eröffnen (vgl. BFH-Beschluß in BFH/NV 1998, 1488, m.w.N.).
Die namentliche Benennung des Einzelrichters ist nicht notwendig (vgl. BFH-Beschluß vom 16. Dezember 1997 IX R 22/95, BFH/NV 1998, 720; Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, § 6 Rz. 7). Die Beteiligten können den Namen des zuständigen Richters jederzeit aus dem senatsinternen Mitwirkungsplan in Erfahrung bringen. Die Kläger haben nicht dargetan, daß die Übertragung nicht dem maßgeblichen Mitwirkungsplan entsprochen habe und "greifbar gesetzeswidrig" gewesen sei.
2. Mängel der Begründung der Entscheidung i.S. der §§ 116 Abs. 1 Nr. 5 und 119 Nr. 6 FGO sind nicht erkennbar. Ausführungen zur Übertragung auf den Einzelrichter sind nicht notwendiger Teil des Urteils, sondern Gegenstand des Übertragungsbeschlusses, der ―da unanfechtbar (§ 6 Abs. 4 Satz 1 FGO)― nicht begründet zu werden braucht (§ 113 Abs. 2 FGO). Die mitwirkenden Richter ergeben sich nach § 105 Abs. 2 Nr. 2 FGO aus der Bezeichnung des Gerichts und den Namen der Mitglieder, die bei der Entscheidung mitgewirkt haben.
3. Die Besetzung des entscheidenden Senats ist nicht zu beanstanden. Sie folgt aus dem Geschäftsverteilungsplan des BFH für 1999 i.V.m. dem senatsinternen Mitwirkungsplan für 1999 vom 11. Dezember 1998. Die Besetzung entspricht den Vorgaben, wie sie in dem Beschluß des BVerfG vom 8. April 1997 1 PBvU 1/95 (BVerfGE 95, 322, BStBl II 1997, 672) für erforderlich gehalten werden.
4. Durch die vorgenannte Entscheidung des BVerfG ist der Antrag nach § 74 FGO gegenstandslos geworden.
Fundstellen
Haufe-Index 302282 |
BFH/NV 1999, 1474 |